Halo - Tochter der Freiheit
dünne, scharfe Narben auf beiden Wangen, auf seinem Pferd und ließ seinen trägen Blick über die Trainierenden gleiten. Er schien nicht viel von ihnen zu halten.
Halo betrachtete ihn heimlich. Stiegen sie eigentlich nie von ihren Pferden? Wo immer sie hinkam, überall traf sie berittene Skythen, die gelangweilt die Menschen beobachteten und mit den Dolchen in ihren Gürteln und den Hunden zu ihren Füßen einen bedrohlichen Anblick boten. Egal, was Aspasia sagte, die Typen machten Halo nervös, und bei diesem war es nicht anders.
Die Bogen waren kretischer Bauart, die für Halo und Arko neu war – sie waren schlank und von hervorragender Qualität. Halo gefielen sie sehr gut. Nur die Zielscheiben waren so groß, dass sie dachte, jemand hätte die Schießlinie falsch eingezeichnet. Sie ging zu einer zwanzig Meter weiter entfernt liegenden Linie, um von dort ihren ersten Schuss zu wagen.
»He, nicht da«, rief der Kreter, »das ist die Linie für die Diskuswerfer.«
Halo ging also wieder zur vorderen Linie, obwohl klar war, dass selbst ein Fünfjähriger aus dieser Entfernung das Ziel treffen würde.
»Also gut«, sagte der Kreter mürrisch, »dann zeig mal, was du kannst.«
Halo band sich einen Gürtel mit einem Köcher für die Pfeile um, nahm den Bogen, wog ihn in der Hand und prüfte die Spannung der Sehne. Sie nahm den Pfeil, der mit einer hübschen Bronzekappe versehen war, und legte ihn exakt in die Nockenkerbe. Sie hob den Bogen auf Ohrhöhe und spannte mit drei Fingern die Sehne, wie Kyllaros es ihr beigebracht hatte. Ihre Sichtlinie verlief genau am Pfeil entlang.
Sie musste das Ziel kaum taxieren: Halo traf ins Schwarze, legte erneut an, traf ins Schwarze, legte wieder an, traf ins Schwarze, und so fort, acht Mal in zwei Minuten. Sie hörte erst auf, als sie keine Pfeile mehr hatte und auf der Zielscheibe kein Platz mehr war. Da blickte sie zu den beiden Lehrern hinüber. Der Kreter runzelte die Stirn. Der Skythe lächelte leise. Sein Hund beobachtete ruhig schnaufend die Szene.
Halo hatte noch nie einen Skythen lächeln sehen. Es machte sie nervös. Sie fürchtete, dass die nächsten Schüsse danebengehen würden.
»Schon gut, schon gut«, sagte der Kreter. »Versuch es von der Diskuslinie.«
Halo zog ihre Pfeile aus der Scheibe, ging zur Linie der Diskuswerfer und spannte den Bogen. Sie versuchte, den Skythen möglichst nicht zu beachten, und legte wieder los.
Der Kreter seufzte.
Der Skythe lächelte wieder.
Arko hatte Mühe, sein Kichern zu unterdrücken.
»Schon gut, schon gut«, rief der Kreter wieder. »Schieß von wo du willst.«
Nichts leichter als das für Halo, denn die Zielscheiben waren fixiert, und sie konnte in Ruhe zielen. So bekam sie keine Gelegenheit, ihr wirkliches Können zu zeigen. Doch sie sammelte ihre Pfeile wieder zusammen, ging noch weiter hinter die Diskuslinie, zielte und schoss. Jeder ihrer Pfeile traf ins Schwarze. Dann, sie legte gerade den letzten Pfeil an, sah sie aus den Augenwinkeln, wie sich eine Ente flügelschlagend vom Fluss erhob und über ihr vorbeizog. Sie konnte nicht widerstehen. Diesem dummen Kreter wollte sie es zeigen. Sie schwenkte herum, zielte, und der Pfeil traf die Ente mitten im Flug. Der Vogel stürzte herab, sie hatte ihn mitten ins Herz getroffen. Als Halo mit dem toten Vogel vor dem Lehrer stand, schimpfte der Kreter los: »Das ist doch kein Jagdausflug! Wir üben hier Zielschießen auf einem Sportfeld! Dein Schuss war äußerst gefährlich! Du hättest jemanden treffen können! Ich werde den Schulleiter von deiner Disziplinlosigkeit unterrichten. Du dummer Junge! Das wird eine Strafe nach sich ziehen!«
Halo kniff die Augen zusammen. Langsam begann der Kreter sie wirklich zu ärgern.
»Weißt du was«, sagte da der Skythe freundlich, ohne sie anzusehen, »komm doch morgen bei uns vorbei, vielleicht können die Skythen dir noch etwas beibringen.«
Halo war so überrascht, dass sie im ersten Moment vergaß, sich zu fürchten. Mit den Skythen trainieren, das gab es eigentlich nicht. Sie sprachen ja kaum mit den anderen Menschen, außer wenn sie einen verhafteten oder ihm Furcht vor den Göttern beibringen wollten. Von allen Ausländergruppen in Athen lebten die Skythen am isoliertesten. Das lag zum Teil daran, dass sie als Wachen und Polizisten arbeiteten und in gesonderten Baracken wohnten, zum Teil an ihrem starken Akzent und schließlich daran, dass sie eigentlich Sklaven waren. Sie blieben unter sich und interessierten sich
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