Halo
halten.»
«Bitte?»
«Schon gut.» Jake rieb sich nachdenklich seine Bartstoppeln am Kinn. «Sag mal, ich weiß, dass dein Freund eine Sportskanone ist, aber kann er auch gut dichten?»
«Xavier ist in den meisten Dingen gut», prahlte ich.
«Wirklich? Wie schön für dich», sagte Jake und hob eine Augenbraue.
Sein Verhalten verwirrte mich, aber das würde ich ihm garantiert nicht zeigen. Ich beschloss, dass es das Sicherste war, das Thema zu wechseln. «Also, wo wohnst du eigentlich?», fragte ich. «In der Nähe der Schule?»
«Im Moment wohne ich über dem Tattoostudio», sagte Jake. «Bis ich etwas Besseres gefunden habe.»
«Ich dachte, du wohnst bei einer Gastfamilie», sagte ich überrascht.
«Nein, das wäre ja wie bei langweiligen Verwandten. Ich bin lieber allein.»
«Und deine Eltern sind damit einverstanden?» Ich fühlte mich bei der Vorstellung, dass er ganz für sich wohnte, irgendwie unbehaglich. Auch wenn er reif und welterfahren wirkte, war er immer noch ein Teenager.
«Ich werde dir von meinen Eltern erzählen, wenn du mir von deinen erzählst.» Seine dunklen Augen brannten sich in meine wie Laser. «Ich glaube, wir haben mehr gemeinsam, als dir bewusst ist. Ach, übrigens, was machst du am Sonntagmorgen? Ich dachte, wir könnten dann vielleicht an unserem Kunstwerk arbeiten.»
«Da bin ich in der Kirche.»
«Natürlich.»
«Du kannst gerne auch kommen.»
«Danke, aber ich bin allergisch gegen Weihrauch.»
«Wie schade.»
«Das ist der Fluch meines Lebens.»
«So, jetzt muss ich aber etwas tun», sagte ich und ging an ihm vorbei. Ich wusste, dass die Zeit nur so rannte.
Er stellte sich mir ungeniert in den Weg. «Bevor du gehst – ich habe den Eröffnungssatz für unser Gedicht.»
Er zog ein zusammengeknülltes Papier aus der Tasche und warf es mir lässig zu. «Sei nicht zu hart mit mir – es ist nur ein Anfang. Es kann danach in jede Richtung gehen, die du willst.»
Er lächelte mir zu und schlenderte davon. Ich ging zur nächstgelegenen Bank und wickelte das Papier auseinander. Jakes Handschrift war elegant und schmal, die Buchstaben langgestreckt, ganz anders als Xaviers jungenhafte Druckschrift. Xavier hasste Schreibschrift, es dauerte ihm zu lange und sah seiner Meinung nach zu extravagant aus. Jakes Schrift war die reinste Kalligraphie, die Buchstaben schwebten über die Seite, als ob sie tanzten. Aber es waren die fünf Wörter, die er geschrieben hatte, die meinen Verstand ins Trudeln brachten:
Sie hatte eines Engels Züge.
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21 Ertrinken
Was konnte Jake damit gemeint haben?
Sie hatte eines Engels Züge.
Die Worte brannten sich förmlich in mein Hirn. Als ob mich Jake im Bruchteil einer Sekunde entblößt und dann zitternd und frierend zurückgelassen hätte. Hatte er etwa mein Geheimnis erraten? War das seine verdrehte Art, Scherze zu machen?
Dann machte irgendetwas in mir Klick; Ärger wallte in mir auf. Ich rannte durch die leeren Flure zurück zur Cafeteria und scannte mit den Augen die kleinen Grüppchen, die dort standen und sich unterhielten. Aber ihn konnte ich nirgendwo finden. Angst kroch aus meinem Bauch hoch, und ich wusste, dass sie mich überwältigen würde, wenn ich nichts dagegen tat. Ich musste Jake finden und ihn auf das Gedicht ansprechen, noch bevor die nächste Stunde begann, oder die Fragen würden mich die ganze Zeit quälen.
Ich fand ihn vor seinem Schließfach.
«Was soll das hier?», schrie ich und fuchtelte mit dem Papier unter seiner Nase herum.
«Wie bitte?»
«Das ist nicht lustig!»
«Sollte es auch nicht sein.»
«Ich bin echt nicht in der Stimmung für Spielchen. Sag mir einfach, was du damit gemeint hast.»
«Hmmmm, kommt mir irgendwie so vor, als ob es dir nicht gefällt», sagte Jake. «Keine Sorge, wir schmeißen es einfach weg – kein Grund, sich so aufzuregen.»
«Was hast du dir dabei gedacht, so was zu schreiben?»
«Ich fand, es wäre vielleicht ein guter Anfang.» Er zuckte mit den Schultern. «Bin ich dir damit irgendwie zu nahe getreten oder so?»
Ich atmete tief durch und versuchte mich daran zu erinnern, wie Miss Castle die Hausaufgabe gestellt hatte. Sie hatte uns einen kurzen Abriss der Tradition der höfischen Liebe gegeben, ein Stück von Petrarca und ein paar Shakespeare-Sonette vorgelesen. Sie hatte von der Idealisierung und Verehrung der geliebten Frau aus der Ferne gesprochen. Hatte sich Jake womöglich nur an das Thema gehalten? Plötzlich war ich wütend auf mich
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