Halo
Sex?»
«Pssst!» Ich schlug leicht mit der Hand nach ihr. Die Leute am Nebentisch hatten sich umgewandt und guckten schon. «Nein, natürlich nicht!»
«Sorry», sagte sie. «Das überrascht mich nur. Ich meine, ich dachte, ihr hättet schon. Aber ihr habt all die anderen Dinge getan, oder?»
«Klar. Wir sind spazieren gegangen, haben Händchen gehalten, unser Mittagessen miteinander geteilt …»
«Mein Gott, Beth, wie alt bist du eigentlich?», stöhnte sie. «Muss ich dir alles haarklein erklären?» Ihre Augen verengten sich. «Warte mal, hast du ihn überhaupt schon mal gesehen?»
«Wen gesehen?»
«Du weißt schon», sagte sie nachdrücklich. «Ihn!» Sie machte eine Handbewegung in Richtung ihres Schoßes, bis ich endlich verstand, was sie meinte.
«Oh!», rief ich. «So was würde ich nie tun.»
«Hat er etwa nie angedeutet, dass er mehr will?», wollte Molly wissen.
«Nein», antwortete ich entrüstet. «Xavier interessiert sich nicht für solche Dinge.»
«Das sagen sie alle am Anfang», sagte Molly zynisch. «Wart’s nur ab. So toll wie Xavier auch ist – am Ende wollen sie alle das Gleiche.»
«Wollen sie das wirklich?»
«Na klar, Honey.» Molly tätschelte meinen Unterarm. «Du solltest nur darauf vorbereitet sein.»
Ich schwieg. Wenn es etwas gab, wovon Molly wirklich Ahnung hatte, dann waren es Jungs. Sie waren quasi ihr Spezialgebiet, und sie hatte wahrhaftig genug Erfahrung, um zu wissen, worüber sie redete. Ich fühlte mich plötzlich ganz unbehaglich. Ich hatte die ganze Zeit angenommen, dass es Xavier nicht störte, wenn ich meine Zuneigung nicht in jeder Beziehung zeigen konnte. Immerhin hatte er nie davon gesprochen oder auch nur angedeutet, dass er etwas in der Richtung erwartete. Konnte es sein, dass er seine wahren Wünsche vor mir verbarg? Nur weil er es nie erwähnt hatte, musste es ihn ja nicht kaltlassen. Er liebte mich, weil ich anders war, aber Menschen hatten nun mal bestimmte Bedürfnisse – und einige davon konnte man nicht bis in alle Ewigkeit ignorieren.
«O mein Gott, hast du den Neuen gesehen?»
Molly unterbrach meine Gedanken, und ich schaute hoch: Jake Thorn ging an uns vorbei, ohne in unsere Richtung zu schauen. Er durchquerte die Cafeteria und setzte sich an einen Tisch, an dem etwa fünfzehn Leute aus der Abschlussklasse saßen, die ihn allesamt bewundernd und respektvoll anstarrten.
«Der hat ja ganz schön schnell Freunde gefunden», bemerkte ich.
«Wundert dich das? Der Typ ist absolut heiß!»
«Findest du?»
«Ja, auf eine dunkle, geheimnisvolle Art. Mit dem Gesicht könnte er Calvin-Klein-Model werden.»
Jakes Anhänger sahen alle ähnlich aus mit ihren dunklen Augenringen. Sie hielten die Köpfe meistens gesenkt und vermieden den direkten Augenkontakt mit allen, die nicht zu ihrer Clique gehörten. Jake sah so selbstzufrieden aus wie eine Katze vor der Sahneschüssel, wenn er sie ansah.
«Er ist in meinem Literaturkurs», bemerkte ich beiläufig.
«O mein Gott, du hast so ein Glück!», stöhnte Molly. «Und, wie ist er so? Er sieht aus wie ein Rebell.»
«Er ist eigentlich sogar ziemlich intelligent», sagte ich.
«Mist.» Molly schmollte. «Diese Sorte fährt nie auf mich ab. Ich krieg immer nur die Sportskanonen, die nichts auf dem Kasten haben. Aber hey, ich könnte es ja trotzdem mal versuchen.»
«Ich bin mir nicht sicher, ob das eine so gute Idee ist», wandte ich ein.
«Na, das ist leicht gesagt, wenn man mit Xavier Woods zusammen ist», erwiderte Molly.
Plötzlich hörten wir einen durchdringenden Schrei aus Richtung Küche, gefolgt von panischen Stimmen und Fußgetrappel. Die Schüler tauschten nervöse Blicke aus; ein paar standen zögernd auf, um herauszufinden, was da los war. Einer von ihnen, Simon Laurence, ging zur Küchentür und erstarrte. Er schlug erschrocken die Hand vor den Mund, das Gesicht ganz grau, und sah aus, als würde er sich gleich übergeben.
«He, was ist los?» Molly hielt Simon am Arm fest, als er an uns vorbeihastete.
«Eine von den Köchinnen», sagte er. «Die Fritteuse ist umgekippt … sie hat sich schlimm die Beine verbrannt. Sie rufen den Notarzt.» Er wirkte ganz erschüttert und stolperte weiter.
Ich starrte auf meinen Teller und versuchte mich darauf zu konzentrieren, heilende Energie in Richtung Küche zu schicken, oder zumindest irgendetwas, das den Schmerz lindern würde. Es funktionierte natürlich besser, wenn ich die Person sehen konnte, der ich helfen wollte, aber es hätte
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