Halo
Schlange.
«Mann, du hast dich grade vorgedrängelt!»
«Na und, ich war schließlich schon die ganze Zeit hier.»
«Schwachsinn! Da kannst du hier jeden fragen!»
Weil kein Lehrer in der Nähe war, schaukelte sich ihr Streit immer weiter hoch, bis sie sich gegenseitig schubsten und beschimpften. Die jüngeren Mädchen, die hinter ihnen standen, sahen besorgt aus, denn der eine Junge nahm den anderen in den Schwitzkasten.
Xavier sprang auf, um einzugreifen, aber dann setzte er sich wieder, denn es war ihm jemand zuvorgekommen: Lachlan Merton, ein Junge mit gebleichten blonden Haaren, der ununterbrochen die Ohrstöpsel seines iPods im Ohr hatte und in diesem Jahr noch keine einzige Hausarbeit abgegeben hatte. Normalerweise war es ihm vollkommen egal, was um ihn herum vor sich ging. Aber jetzt drängte er sich zwischen die beiden Jungs und zog sie auseinander. Wir konnten nicht hören, was er sagte, aber die beiden ließen widerwillig voneinander ab und gaben sich unter seinem Druck schließlich sogar die Hand.
Xavier und ich sahen uns an. «Lachlan Merton benimmt sich verantwortungsvoll – na, das ist ja mal was ganz Neues», bemerkte Xavier.
Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass wir gerade Zeugen einer schleichenden Veränderung der Atmosphäre in Bryce Hamilton geworden waren. Ivy und Gabriel würden sich freuen, wenn sie davon erfuhren – immerhin zahlten sich ihre Bemühungen langsam aus. Es gab natürlich Orte, die himmlische Hilfe wesentlich nötiger hatten als Venus Cove, aber die gehörten nicht zu unserem Auftrag. Andere Boten des Lichts waren dafür zuständig. Tief in meinem Herzen war ich froh, dass ich nicht in einen Teil der Welt geschickt worden war, in dem Krieg, Armut oder Naturkatastrophen wüteten. Sie zeigten Bilder von diesen Orten im Fernsehen, und das war jedes Mal schon schlimm genug. Ich vermied es inzwischen, Nachrichtensendungen zu schauen, weil ich danach meist völlig verzweifelt war. Wie konnte ich dabei zuschauen, wie Kinder hungerten und krank wurden, weil sie kein sauberes Wasser bekamen? Wenn ich an all die Dinge dachte, die die Menschheit ertragen musste, musste ich weinen. Warum ging es manchen menschlichen Wesen so viel besser als anderen? Niemand sollte hungrig oder einsam sein dürfen oder sich gar wünschen, tot zu sein. Ich betete natürlich zu Gott, aber manchmal machte mich der Gedanke an all die Armen und Hungrigen trotzdem wütend.
Einmal hatte ich mit Gabriel darüber gesprochen. Er hatte gesagt, ich sei noch nicht bereit, aber eines Tages würde ich es verstehen. «Kümmere dich um die Aufgaben, die man dir gegeben hat», hatte er mir geraten.
Am nächsten Morgen brachen wir drei nach Fairhaven zum Altersheim auf. Wie versprochen, hatte ich dort ein paarmal bei Alice vorbei geschaut, aber meine Besuche waren seltener geworden, je mehr Freizeit ich mit Xavier verbrachte. Immerhin kamen Gabriel und Ivy regelmäßig hierher, und sie achteten immer darauf, Phantom mitzunehmen. Sie erzählten, dass er immer noch schnurstracks zu Alice lief, ohne dass man ihm den Weg zeigen musste.
Da sich Molly ebenfalls angeboten hatte zu helfen, fuhren wir einen Umweg, um sie abzuholen. Sie war schon angezogen und bereit, obwohl es erst neun Uhr an einem Samstagmorgen war. Ich wusste, dass sie sonst fast nie vor Mittag aus dem Bett kroch. Wir waren überrascht, dass sie angezogen war wie für ein Fotoshooting, mit Jeansmini, hohen Schuhen und einer karierten Bluse. Taylah hatte bei ihr übernachtet und konnte offenbar überhaupt nicht verstehen, wie sie freiwillig einen Gossip-Girl-Marathon im Fernsehen für die Arbeit mit alten Leuten sausenlassen konnte.
«Warum gehst du in ein Altersheim?», hörte ich ihre entsetzte Stimme aus dem Inneren des Hauses, als ich Molly die Autotür öffnete.
«Irgendwann kommen wir alle dorthin», antwortete Molly und lächelte. Sie kontrollierte ihr Lipgloss im Wagenfenster.
«Ich nicht», schwor Taylah, trat in die Tür und winkte uns beiläufig zu. «Da stinkt es.»
«Ich ruf dich später an», sagte Molly und setzte sich pflichtschuldig neben mich.
«Aber Moll», quengelte Taylah, «Adam und Chris wollten uns doch heute Morgen treffen.»
«Grüß sie von mir.»
Taylah starrte uns hinterher, als unser Wagen aus der Einfahrt fuhr. Vermutlich fragte sie sich, wer ihre beste Freundin entführt und ihr stattdessen diese Hochstaplerin geschickt hatte.
Die ganze Belegschaft des Altersheims schien sich zu freuen, als wir kamen. Sie hatten
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