Halo
kannte, nicht im Geringsten. Die Krankheit hatte ihr Gesicht gezeichnet und sie vollkommen verändert. Ihr Körper wirkte so zerbrechlich wie der eines Vögelchens, und das dünne, ungekämmte Haar stand ihr wild vom Kopf ab. Die bunten Strickjäckchen waren verschwunden. Sie trug nur ein schlichtes weißes Nachthemd.
Als ich ihren Namen sagte, öffnete sie nicht einmal ihre Augen, streckte aber die Hand nach mir aus. Sofort nutzte Phantom die Gelegenheit und stieß seine Nase in die Handfläche. Dann nahm ich ihre Hand in meine.
«Bist du das, Phantom?», fragte Alice mit heiserer Stimme.
«Phantom und Beth», antwortete ich. «Wir sind zu Besuch gekommen.»
«Beth …», wiederholte sie. «Wie schön, dass du gekommen bist. Ich habe dich vermisst.» Ihre Augen waren noch immer geschlossen, so als würde es sie zu sehr anstrengen, sie zu öffnen.
«Wie geht es Ihnen?», fragte ich. «Kann ich Ihnen etwas bringen?»
«Nein, meine Liebe, ich habe alles, was ich brauche.»
«Es tut mir leid, dass ich so lange nicht da war. Es ist so, dass …» Mir fiel einfach keine Erklärung dafür ein, dass ich sie so lange vernachlässigt hatte.
«Ich weiß», sagte sie. «Das Leben kommt einem immer dazwischen. Du musst dich nicht entschuldigen. Jetzt bist du hier, und das ist es, was zählt. Ich hoffe, Phantom hat sich anständig benommen.»
Phantom bellte kurz, als er hörte, dass sein Name fiel.
«Er ist der perfekte Gefährte.»
«Guter Junge», sagte Alice. «Ich bin stolz auf dich.»
«Was muss ich da hören? Sie sind krank?», fragte ich bemüht heiter. «Wir müssen Sie wieder auf die Beine bekommen!»
«Ich bin mir gar nicht sicher, dass ich wieder auf die Beine kommen möchte. Vielleicht ist meine Zeit gekommen …»
«Sagen Sie das nicht», unterbrach ich sie. «Sie müssen sich nur ein wenig ausruhen, und …»
Alice’ Kopf fiel ganz plötzlich nach vorn, und sie riss ihre Augen auf. Sie schienen nichts zu fixieren, sondern starrten nur wild in den Raum hinein. «Ich weiß, wer du bist», krächzte sie.
«Das ist gut», antwortete ich, aber ich spürte, dass sich etwas in meiner Brust zusammenzog. «Es freut mich, dass Sie mich nicht vergessen haben.»
«Du bist gekommen, um mich zu holen», sagte sie. «Noch nicht, aber bald.»
«Wohin denn?», fragte ich. Ich wollte einfach nicht glauben, was sie mir da erzählte.
«In den Himmel», entgegnete sie. «Ich kann dein Gesicht nicht sehen, Beth, aber ich sehe dein Licht.»
Ich starrte sie an.
«Du zeigst mir doch den Weg, oder?»
Zart berührte ich ihr Handgelenk, um nach ihrem Puls zu tasten. Er zuckte schwach wie eine flackernde Kerzenflamme kurz vor dem Erlöschen. Aber meine Zuneigung zu ihr durfte mich nicht daran hindern, meinen Job zu erledigen. Ich schloss die Augen und erinnerte mich an das Wesen, das ich im Königreich gewesen war: ein Führer, ein Mentor für die Seelen, die sich auf den Übergang vorbereiteten. Meine Spezialität war es gewesen, die Seelen von Kindern zu trösten, die in die andere Dimension wechselten.
«Wenn die Zeit kommt, werden Sie nicht allein sein.»
«Ich fürchte mich ein wenig. Sag mir, Beth, wird es dort Dunkelheit geben?»
«Nein, Alice, nur Licht.»
«Und was ist mit meinen Sünden? Ich war nicht immer eine Musterbürgerin, weißt du», sagte sie, und ich konnte einen Hauch von Humor hinter ihren Worten spüren.
«Der Herr vergibt alles.»
«Und sehe ich meine Lieben wieder?»
«Sie werden in eine viel größere Familie aufgenommen. Sie werden eins sein mit allen Wesen dieser Welt und darüber hinaus.»
Alice ließ sich zurück in ihre Kissen fallen. Sie sah zufrieden aus, aber auch müde. Ihre Lider flatterten.
«Sie sollten jetzt schlafen», sagte ich.
Ich schloss meine Finger um ihre zerbrechliche Hand, und Phantom lehnte seinen Kopf gegen ihren Arm.
Gemeinsam saßen wir an ihrem Bett, bis sie einschlief.
Auf der Fahrt nach Hause musste ich ständig an Alice’ Worte denken. Dem Tod von oben zuzusehen war natürlich traurig, aber ihn tatsächlich mitzuerleben zerriss einem fast das Herz. Es war ein körperlicher Schmerz, gegen den es kein Mittel gab. Ich spürte starke Gewissensbisse, wenn ich daran dachte, wie sehr ich mich von der Liebe zu Xavier von meinen Verpflichtungen hatte ablenken lassen. Der Himmel hatte unsere Beziehung gutgeheißen, zumindest fürs Erste, aber ich durfte nicht zulassen, dass sie mich ganz auffraß. Gleichzeitig wünschte ich mir nichts mehr, als ihn zu treffen
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