Halo
würde niemals wieder nach Hause gehen können, denn er war jetzt mein Zuhause. Und mich erfüllte der seltsame und überwältigende Drang, ihm so nah wie nur irgend möglich zu sein, mit ihm in dem Versprechen zu verschmelzen, immer zusammenzubleiben.
Ich stand auf und bohrte meine Zehen in den Teppich. Xavier betrachtete mich neugierig. Schweigend erwiderte ich seinen Blick, zog mir langsam das Oberteil über den Kopf und ließ es zu Boden fallen. Ich spürte keinerlei Befangenheit; ich fühlte mich nur frei. Ich stieg aus meiner Schlafanzughose und stand vollkommen nackt und wehrlos vor ihm.
Xavier sagte kein Wort, um das summende Schweigen, welches das Zimmer erfüllte, nicht zu stören. Einen Augenblick später war auch er aufgestanden und ließ T-Shirt und Jeans zu Boden fallen. Er kam zu mir und glitt mit seinen warmen Händen über meinen Rücken. Ich seufzte und sank in seine Arme. Das Gefühl seiner Haut an meiner schickte ein warmes Glühen durch meinen Körper, und ich presste mich an ihn und fühlte mich zum ersten Mal seit vielen Tagen ganz. Ich küsste seine weichen Lippen und fuhr mit den Händen vorsichtig über sein Gesicht, über seine Nase und Wangenknochen. Ich würde sein Gesicht überall wiedererkennen; ich konnte es lesen wie ein Blinder die Blindenschrift. Er roch frisch und süß, und ich presste meine Brust gegen seine. In meinen Augen war er makellos, doch selbst wenn er einen Makel gehabt hätte, wäre es mir egal gewesen. Ich hätte ihn auch geliebt, wenn er ein krummer, zerlumpter Bettler gewesen wäre.
Wir ließen uns aufs Bett sinken, und so blieben wir liegen, bis Ivy und Gabriel nach Hause kamen – nur wir zwei, eng umschlungen. Molly hätte uns für verrückt erklärt. Aber es war diese Nähe, die wir wollten. Wir wollten uns fühlen wie eine Person statt wie zwei getrennte Individuen. Kleidung verdeckte uns. Ohne diese Kleidung konnten wir uns nicht mehr verstecken, hatten keine Möglichkeit, einen Teil unseres Selbst zu verbergen, und das war es, was wir wollten: vollkommen wir selbst sein und uns dabei vollkommen sicher fühlen.
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28 Engel der Zerstörung
Am nächsten Morgen kam Xavier, um vor der Schule mit uns zu frühstücken. Beim Essen versuchte Gabriel ihn zur Vernunft zu bringen. Wir wussten alle, dass Xavier wegen Jakes Doppelspiel wütend war und ihn nur zu gern ganz allein zur Rede stellen wollte. Das wollte Gabriel jedoch unter allen Umständen verhindern, besonders da wir den Umfang von Jakes Macht noch nicht kannten.
«Du darfst ihn auf keinen Fall konfrontieren», sagte Gabriel nüchtern.
Xavier betrachtete ihn über den Rand seines Kaffeebechers. «Er hat Beth bedroht», antwortete er und straffte die Schultern. «Er hat sich ihr aufgezwungen. Wir können ihn damit doch nicht einfach davonkommen lassen.»
«Jake ist nicht wie die anderen Schüler. Du darfst nicht versuchen, allein mit ihm fertigzuwerden», sagte Gabriel. «Wir wissen nicht, wozu er fähig ist.»
«Der kann mir nicht gefährlich werden, dazu ist er zu mager», murmelte Xavier leise.
Ivy warf ihm einen strengen Blick zu. «Du weißt, dass sein Äußeres damit nichts zu tun hat.»
«Was wollen Sie denn dann tun?», fragte Xavier.
«Wir können gar nichts tun», sagte Gabriel, «ohne die Aufmerksamkeit ungewollt auf uns zu lenken. Wir können bloß hoffen, dass er nichts Böses im Schilde führt.»
Xavier stieß ein kurzes Lachen aus, dann funkelte er Gabriel an. «Meinen Sie das im Ernst?»
«Todernst.»
«Aber was ist mit dem, was er beim Abschlussball gemacht hat?»
«Das ist nicht Beweis genug», sagte Gabriel.
«Und was ist mit dem Unfall, mit der Köchin und dem Frittierfett?», sagte ich. «Und dem Autounfall am Semesteranfang.»
«Du glaubst, dass Jake damit etwas zu tun haben könnte?», fragte Ivy. «Aber er war noch nicht mal an der Schule, als der Autounfall passierte.»
«Er brauchte ja bloß in der Stadt zu sein», antwortete ich. «Und auf jeden Fall war er an diesem Tag in der Cafeteria, weil ich genau an ihm vorbeigegangen bin.»
«Ich habe von einem Bootsunfall am Steg vor zwei Tagen gelesen», fügte Xavier hinzu. «Und in letzter Zeit gab es einige Feuer, die offenbar von Brandstiftern gelegt wurden. Das ist hier in der Gegend noch nie vorgekommen.»
Gabriel legte den Kopf in die Hände. «Ich muss darüber nachdenken», sagte er.
«Das ist noch nicht alles», unterbrach ich ihn. Ich fühlte mich schuldig, die Überbringerin so vieler
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