Halo
dass wir uns ein bisschen Zeit nahmen, unsere Erfolge und Misserfolge zu überdenken. Besser gesagt, Gabriel und Ivy überdachten ihre Erfolge und ich meine Misserfolge. Ich starrte in den Himmel und naschte Melonenstücke. Obst, so hatte ich entschieden, war mein Lieblingsessen. Die saubere, süße Frische der Früchte erinnerte mich an zu Hause.
«Habt ihr das gesehen?» Ivy kam mit einer Obst- und Käseplatte nach draußen und warf angewidert eine Zeitung auf den Tisch.
«Mmm.» Gabriel nickte.
«Was ist denn?» Ich setzte mich auf und reckte den Hals, um die Schlagzeile zu lesen. Dabei erhaschte ich einen Blick auf das Foto, das die ganze Seite füllte. Menschen liefen in alle Richtungen, Männer versuchten verzweifelt, Frauen zu schützen, Mütter griffen nach ihren Kindern, die in den Staub gefallen waren. Einige von ihnen hielten die Augen geschlossen und beteten, andere hatten den Mund weit aufgerissen und schrien stumme Schreie. Hinter ihnen loderten Flammen bis zum Himmel, und dichter Rauch verdunkelte die Sonne.
«Bombenanschlag im Nahen Osten», sagte mein Bruder und drehte die Zeitung mit einem Handgriff um. Es spielte keine Rolle mehr – das Bild hatte sich mir bereits ins Gedächtnis gebrannt. «Mehr als dreihundert Tote. Ihr wisst, was das bedeutet, oder?»
«Unsere Boten da drüben machen ihren Job nicht ordentlich?» Meine Stimme zitterte.
«Können ihren Job nicht ordentlich machen», korrigierte Ivy.
«Wieso nicht?», fragte ich.
«Die Mächte der Finsternis sind in diesem Teil der Welt stärker als die Mächte des Lichts», sagte Gabriel ernst. «Das zeigt sich immer häufiger.»
«Wieso sollte der Himmel der einzige Ort sein, der Boten schickt?» Ivy klang ein bisschen ungeduldig, weil ich so wenig verstand. «Wir sind nicht allein.»
«Gibt es denn nichts, was wir tun könnten?», fragte ich.
Gabriel schüttelte den Kopf. «Ohne Befugnis dürfen wir gar nichts unternehmen.»
«Aber es sind dreihundert Menschen gestorben!», protestierte ich. «Das muss doch von Bedeutung sein!»
«Natürlich ist es von Bedeutung», sagte Gabriel. «Aber unsere Dienste sind nicht gefragt. Wir sind an diese Stelle berufen worden und können sie nicht aufgeben, weil an einem anderen Ort auf dem Globus etwas Schlimmes passiert ist. Wir sind angewiesen, hierzubleiben und über Venus Cove zu wachen. Dafür muss es einen Grund geben.»
«Was ist mit all den Leuten?», fragte ich. Die von Entsetzen erfüllten Gesichter stiegen wieder vor meinem geistigen Auge auf.
«Alles, was wir tun können, ist für göttliches Eingreifen zu beten.»
Am Nachmittag bemerkten wir, dass uns die Lebensmittel ausgingen. Da es mir inzwischen viel besser ging, bot ich an, zum Einkaufen in den Ort zu gehen. Ich hoffte, durch diesen Botengang die Bilder, die mich so beunruhigten, aus meinem Kopf zu bekommen. Ich konnte nicht die ganze Zeit über menschliche Katastrophen nachdenken.
«Was soll ich holen?», fragte ich und griff nach einem Briefumschlag, um die Rückseite als Einkaufszettel zu benutzen.
«Obst, Eier und Brot von dem neuen französischen Bäcker, der gerade eröffnet hat», sagte Ivy.
«Soll ich dich in die Stadt fahren?», bot Gabriel an.
«Nein danke. Ich denke, ich nehme das Fahrrad. Ich brauche ein bisschen Bewegung.»
Ich überließ Gabriel wieder seinem Buch, holte mein Fahrrad aus der Garage und legte eine zusammengefaltete Leinentasche in den Fahrradkorb. Ivy hatte begonnen, verblühte Rosen im Vordergarten zu schneiden, und winkte mir zu, als ich an ihr vorbeischoss.
Die zehnminütige Fahrt zu den Läden hinunter war eine Erfrischung. Die Luft roch gut nach Lavendel, was mir half, die Trübsal zu vertreiben. Ich verbot meinen Gedanken, zu Xavier Woods zu wandern, und blockierte jegliche Erinnerungen an den vergangenen Abend. Aber mein Gehirn ließ sich nicht beeinflussen, und ich schauderte, als ich an das Gefühl seiner starken Arme dachte, die mich hielten, an den Stoff seines Shirts an meiner Wange, die Berührung seiner Hand, die mir das Haar aus der Stirn strich, genau, wie er es in meinem Traum getan hatte.
Ich schloss mein Fahrrad am Ständer vor der Post ab und machte mich auf den Weg zum Supermarkt. Vor dem Eingang verlangsamte ich meinen Schritt, um zwei Frauen hinauszulassen, eine von ihnen leicht gebückt und älter, die andere kräftig und etwas jünger. Die jüngere Frau half ihrer Begleiterin zu einer Bank, bevor sie zum Laden zurückkehrte und einen Zettel an die Scheibe klebte.
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