Halo
der Hand und steckte sie zwischen die Seiten meines Kalenders. Ich hatte keine Ahnung, wie sie in Xaviers Auto gelandet war. Meine Flügel waren an dem Abend ordentlich zusammengefaltet gewesen.
«Talisman?», fragte Xavier. Seine türkisfarbenen Augen betrachteten interessiert mein Gesicht.
«So etwas in der Art», antwortete ich vorsichtig.
«Du siehst traurig aus, stimmt irgendetwas nicht?»
Ich schüttelte schnell den Kopf und schaute weg.
«Du weißt, du kannst mir vertrauen.»
«Genau genommen weiß ich das noch nicht wirklich.»
«Du wirst es herausfinden, wenn wir mehr Zeit miteinander verbringen», sagte er. «Ich bin ein ziemlich loyaler Typ.»
Ich hörte ihn nicht. Ich war zu sehr damit beschäftigt, die Gesichter in der Menge zu betrachten, für den Fall, dass eins davon Gabriel gehörte. Seine Ängste erschienen mir jetzt nicht mehr ganz so unbegründet.
«Nicht zu viel Begeisterung, bitte», sagte Xavier lachend. Seine Worte brachten mich mit einem Ruck in die Gegenwart zurück.
«Entschuldige», sagte ich. «Ich bin heute ein bisschen geistesabwesend.»
«Kann ich dir irgendwie helfen?»
«Ich glaube nicht, aber danke der Nachfrage.»
«Du weißt, Geheimnisse voreinander zu haben ist schlecht für eine Beziehung.» Xavier verschränkte die Arme entspannt vor der Brust und lehnte sich zurück.
«Wer hat denn etwas von Beziehung gesagt? Wir müssen weder Geheimnisse noch sonst irgendetwas teilen, wir sind ja nicht verheiratet oder so.»
«Möchtest du mich heiraten?», fragte Xavier, und ich sah, wie sich einige Köpfe neugierig zu uns umdrehten. «Ich dachte eigentlich, wir gehen es langsam an und schauen, wie sich die Dinge entwickeln, aber klar, warum nicht!»
Ich verdrehte die Augen. «Sei still, sonst kneif ich dich.»
«Oh», spottete er. «Was für eine Drohung. Ich glaube, ich bin noch nie gekniffen worden.»
«Willst du damit sagen, dass ich dir nicht weh tun könnte?»
«Im Gegenteil, ich glaube, du hast die Macht, mich sehr zu verletzen.»
Ich sah ihn verwirrt an. Dann wurde ich tiefrot, als mir dämmerte, was er meinte.
«Sehr witzig», sagte ich knapp.
Sein Arm, der auf dem Tisch lag, berührte ganz leicht meinen. Irgendetwas in mir regte sich.
Ich konnte wirklich nichts dagegen tun. Meine Gefühle für Xavier Woods waren heftig und leidenschaftlich. Mein altes Dasein schien auf einmal sehr weit weg. Nach dem Himmel sehnte ich mich kein bisschen, anders als Gabriel und Ivy. Für sie war das Leben auf der Erde eine tägliche Erinnerung an die Beschränktheit des menschlichen Körpers. Für mich war es eine Erinnerung an das Wunder, ein Mensch zu sein.
Ich gewöhnte mich daran, meine Gefühle für Xavier vor meinen Geschwistern zu verbergen. Natürlich wussten sie davon, aber wenn sie sie missbilligten, mussten sie mit sich selbst einen Pakt geschlossen haben, das für sich zu behalten. Dafür war ich dankbar. Aber ich fühlte auch eine deutliche Kluft zwischen uns, die zuvor nicht da gewesen war. Unser Verhältnis schien zerbrechlicher geworden zu sein, und während des Abendessens trat oft eine unbehagliche Stille ein. Wenn ich sie abends beim Einschlafen flüstern hörte, war ich mir sicher, dass mein Ungehorsam das Thema ihrer Diskussion war. Ich beschloss, nichts gegen die wachsende Distanz zwischen uns zu tun, auch wenn ich diese Entscheidung möglicherweise später bereuen würde.
Im Moment hatte ich anderes im Kopf. Ich freute mich auf einmal darauf, morgens aufzustehen, und sprang aus dem Bett, ohne dass Ivy mich wecken musste. Ich ließ mir Zeit im Bad und probierte neue Frisuren aus, wobei ich versuchte, mich so zu sehen, wie Xavier mich sah. Im Kopf spielte ich immer wieder Teile unserer Unterhaltung ab und versuchte abzuschätzen, welchen Eindruck ich auf ihn gemacht hatte. Manchmal war ich mit einer geistreichen Bemerkung zufrieden, aber oft schalt ich mich selbst, weil ich etwas Ungeschicktes gesagt oder getan hatte. Es wurde mir zum Zeitvertreib, mir kurze, witzige Kommentare zu überlegen und sie zum späteren Gebrauch abzuspeichern.
Jetzt war ich neidisch auf Molly und ihre Clique. Das, was für sie selbstverständlich war, konnte ich niemals haben: eine Zukunft auf diesem Planeten. Sie würden erwachsen werden und selbst Familien gründen, Berufe ergreifen und ein ganzes Leben voller Erinnerungen mit dem Partner teilen, den sie wählten. Ich war nur ein Tourist mit geborgter Zeit. Ich wusste, dass ich allein aus diesem Grund meine Gefühle für
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