Halo
Xavier hätte zügeln müssen, anstatt zuzulassen, dass sie wuchsen. Aber wenn ich irgendetwas über Liebesgeschichten von Teenagern gelernt hatte, dann, dass sie nicht immer von Dauer waren. Drei Monate waren die Regel, sechs Monate markierten einen Wendepunkt, und wenn eine Beziehung ein Jahr hielt, war das Paar so gut wie verlobt. Ich wusste nicht, wie lange ich auf der Erde blieb, aber egal ob einen Monat oder ein Jahr, ich würde keinen einzigen Tag davon verschwenden. Jede mit Xavier verbrachte Minute wurde schließlich zu einer Erinnerung, die ich brauchen würde, um die Ewigkeit auszuhalten.
Es fiel mir nicht schwer, diese Erinnerungen zu sammeln, denn bald schon verging kein Tag mehr, ohne dass ich Xavier sah. Wann immer wir in der Schule Zeit hatten, suchten wir einander. Manchmal beschränkte sich unser Kontakt auf ein kurzes Gespräch vor den Spinden oder eine gemeinsame Mittagspause. Wenn ich nicht im Unterricht war, war ich stets auf der Suche nach ihm: Ich blickte mir ständig über die Schulter, ich versuchte ihn zu erspähen, wenn er aus den Umkleidekabinen kam, wartete auf den Moment, in dem er während der Schulversammlungen die Bühne betrat oder versuchte, ihn unter den Spielern auf dem Rugbyfeld auszumachen. Molly schlug sarkastisch vor, dass ich eine Brille gebrauchen könnte.
Wenn Xavier am Nachmittag kein Training hatte, brachte er mich nach Hause, wobei er darauf bestand, meine Tasche zu tragen. Wir sorgten dafür, dass der Weg möglichst lang war, machten einen Schlenker durch die Stadt und kehrten im
Sweethearts
ein, was bald zu unserem Stammcafé wurde.
Manchmal unterhielten wir uns darüber, wie unser Tag war, manchmal saßen wir auch nur in behaglichem Schweigen zusammen. Ich war zufrieden damit, ihn einfach nur anzuschauen, ich konnte mich einfach nicht an ihm satt sehen. Die Art, wie ihm sein Haar ins Gesicht fiel, seine Augen in der Farbe des Meeres, seine Angewohnheit, die Augenbrauen hochzuziehen, faszinierten mich immer wieder aufs Neue. Sein Gesicht war so hinreißend wie ein Kunstwerk. Mit meinen übermenschlich scharfen Sinnen lernte ich, ihn an seinem charakteristischen Geruch zu erkennen. Durch den frischen, holzigen Duft in der Luft wusste ich immer schon, dass er in der Nähe war, bevor ich ihn sehen konnte.
Manchmal sah ich mich an diesen sonnengoldenen Nachmittagen verstohlen um. Ich erwartete eine himmlische Strafe. Ich bildete mir ein, dass ich von geheimen Blicken verfolgt wurde, die Beweise für mein Fehlverhalten sammelten. Aber nichts geschah.
Es lag vor allem an Xavier, dass ich meine Rolle als Außenseiterin verlor und nun im Schulleben der Bryce Hamilton integriert war. Ich machte die Entdeckung, dass Beliebtheit übertragen werden konnte: Wenn es so etwas wie Kollektivschuld gab, galt das in gleichem Maße für Anerkennung. Nur, weil ich mich zu Xaviers Freunden zählen durfte, wurde ich nahezu über Nacht akzeptiert. Sogar Molly, die mir anfänglich mein Interesse an ihm hatte ausreden wollen, schien besänftigt. Noch immer drehten sich alle nach uns um, aber inzwischen eher aus Bewunderung als aus Überraschung. Selbst wenn ich allein war, bemerkte ich einen Unterschied. Leute, die ich kaum kannte, winkten mir im Gang zu, hielten Smalltalk mit mir, wenn wir auf unseren Lehrer warteten, oder fragten mich, wie mein letzter Test gelaufen war.
Mein Kontakt zu Xavier in der Schule war dadurch beschränkt, dass wir fast keinen Unterricht zusammen hatten. Ansonsten wäre ich ihm wahrscheinlich nachgelaufen wie ein kleiner Hund. Wir waren nur in Französisch im gleichen Kurs, denn er hatte seinen Schwerpunkt auf Mathe und Naturwissenschaften gelegt, während ich die künstlerischen Fächer bevorzugte.
«Literatur ist mein Lieblingsfach», eröffnete ich ihm eines Tages in der Cafeteria, als wäre das eine lebenswichtige Erkenntnis. Ich hatte mein Heft mit Begriffen aus der Literatur dabei und öffnete es auf einer beliebigen Seite. «Ich wette, du weißt nicht, was ein Zeilensprung ist.»
«Stimmt, weiß ich nicht, aber es klingt schmerzhaft», sagte Xavier.
«Ein Zeilensprung tritt dann auf, wenn ein Satz in einem Gedicht in die nächste Zeile übergreift.»
«Wäre es nicht einfacher zu lesen, wenn man einfach einen Punkt machte?»
Das war eins der Dinge, die ich an Xavier mochte: Sein Blick auf die Welt war so schwarz-weiß. Ich lachte.
«Vielleicht, aber es wäre nicht so interessant.»
«Mal im Ernst, was genau magst du so an Literatur?», fragte er
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