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Halo

Halo

Titel: Halo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Adornetto
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mit aufrichtigem Interesse. «Ich hasse es, dass es dort keine richtigen und falschen Antworten gibt. Man kann alles Mögliche hineininterpretieren.»
    «Mir gefällt es, dass jeder Leser ein Wort oder einen Satz vollkommen anders verstehen kann», sagte ich. «Man kann stundenlang über die Bedeutung eines Gedichtes diskutieren und hat am Ende vielleicht doch keine Lösung gefunden.»
    «Und das frustriert dich nicht? Willst du denn nicht die Antwort wissen?»
    «Manchmal ist es besser, nicht zu versuchen, in allem einen Sinn zu sehen. Das Leben ist nicht eindeutig, es gibt immer Grauzonen.»
    «Mein Leben ist ziemlich klar», sagte Xavier. «Deins nicht?»
    «Nein», sagte ich seufzend und dachte an den schwelenden Konflikt mit meinen Geschwistern. «Meine Welt ist chaotisch und verwirrend. Manchmal ist das ganz schön anstrengend.»
    «Ich denke, dann sollte ich deine Welt verändern», antwortete Xavier.
    Wir sahen uns ein paar Momente lang schweigend an, und ich hatte das Gefühl, dass seine wundervollen Meeresaugen direkt in mein Herz blickten und all meine Gedanken und tiefsten Gefühle herauslesen konnten.
    «Weißt du, dass man Literaturschüler immer erkennt?», fuhr er schließlich grinsend fort.
    «Ach ja? Woran?»
    «Sie laufen gewöhnlich mit Baskenmützen und einem Ich-weiß-etwas-was-du-nicht-weißt-Gesichtsausdruck herum.»
    «Das ist nicht fair!», widersprach ich. «Ich nicht.»
    «Nein, dafür bist du zu sehr du selbst. Ändere dich bloß nicht und fang unter keinen Umständen damit an, eine Baskenmütze zu tragen.»
    «Ich werde mich bemühen», sagte ich lachend.
    Es gongte zur nächsten Stunde.
    «Was hast du jetzt?», fragte Xavier.
    Als Antwort wedelte ich ihm mit meiner Bücherliste vor der Nase herum.
    Ich freute mich immer, wenn ich Literatur bei Miss Castle hatte. Die Gruppe war sehr gemischt, obwohl wir nur zu zwölft waren. Wir hatten zwei düster wirkende Goth-Mädchen, die schwarzen Kajal trugen und so weiß eingepudert waren, dass sie aussahen, als wenn sie noch nie die Sonne gesehen hätten. Dann gab es eine Gruppe von fleißigen Mädchen mit adretten Haarschleifen und ordentlich gefüllter Federtasche, die nur ihre Noten im Kopf hatten, aber meist zu sehr damit beschäftigt waren mitzuschreiben, um sich am Unterrichtsgespräch zu beteiligen. Wir hatten nur zwei Jungs: einen eingebildeten, aber klugen Jungen namens Ben Carter, der gern diskutierte, und Tyler Jensen, einen muskulösen Rugbyspieler, der meist zu spät kam und die Stunde damit verbrachte, möglichst unbeteiligt zu gucken und Kaugummi zu kauen. Er trug nie etwas zum Unterricht bei, und was ihn in unseren Kurs trieb, war für alle ein Rätsel.
    Da wir so eine kleine Gruppe waren, trafen wir uns in einem winzigen Klassenraum im alten Teil der Schule, der an den Verwaltungstrakt grenzte. Der Raum wurde ansonsten nicht genutzt, und wir durften die Möbel umstellen und Poster aufhängen. Mein Lieblingsposter war eins, auf dem Shakespeare romantisiert als Pirat mit Ohrring dargestellt war. Das einzig Gute an dem Raum war, dass er Blick auf den Rasen und die palmengesäumte Straße vor der Schule hatte. Anders als in anderen Stunden war die Atmosphäre im Literaturunterricht nie lustlos. Im Gegenteil, die Luft schien von all den verschiedenen Gedanken nur so zu flirren.
    Ich saß neben Ben und beobachtete, wie er mit seinem Laptop auf den Websites seiner Lieblingsbands surfte. Er hörte damit auch dann nicht auf, als der Unterricht bereits begonnen hatte. Miss Castle kam mit einem Kaffeebecher und einem Stoß Fotokopien herein. Sie war eine große, schlanke Frau Anfang vierzig mit üppigen dunklen Locken und verträumten Augen. Sie trug immer eine Brille mit dickem Rahmen an einem dünnen roten Band um den Hals und eine pastellfarbene Bluse. Wenn man bedachte, wie sie sich selbst gab und ausdrückte, hätte sie besser in einen Jane-Austen-Roman gepasst, in dem Frauen in Kutschen fuhren und die Salons mit geistreichem Schlagabtausch erfüllt waren. Sprache war ihre Leidenschaft und egal, welchen Text wir gerade durchnahmen, sie identifizierte sich immer lebhaft mit der Heldin. Sie unterrichtete so lebendig, klopfte auf den Lehrertisch, feuerte Fragen auf uns ab oder gestikulierte wild, um etwas zu verdeutlichen, und es hätte mich nicht überrascht, wenn sie eines Tages auf dem Lehrertisch stehen oder sich von Lampe zu Lampe schwingen würde.
    Wir hatten zu Beginn des Trimesters «Romeo und Julia» mit Shakespeares

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