Halo
seinen traurigen, farblosen Augen an.
«Steh auf», murmelte ich. «Es ist noch nicht deine Schlafenszeit.»
Vermutlich setzte ich mich zu schnell auf, denn eine Welle der Erschöpfung überrollte mich wie eine Lawine. Langsam schwang ich meine Beine über die Bettkante und versuchte, alle Kraft zusammenzunehmen und aufzustehen. Es war nicht einfach, aber ich schaffte es, mir meinen Morgenmantel anzuziehen, und stolperte nach unten, wo ich auf den nächstbesten Stuhl sank. Gabriel und Ivy waren in der Küche, der Duft von Knoblauch und Ingwer erfüllte den Raum, im Hintergrund erklang das «Ave Maria» von Schubert. Sie unterbrachen ihre Tätigkeit und kamen lächelnd heraus, um mich zu begrüßen. Das war eine Überraschung für mich, denn es war schon einige Zeit her, dass wir mehr als Höflichkeiten ausgetauscht hatten.
«Wie fühlst du dich?» Ivys kühle, schlanke Finger strichen mir über den Kopf.
«Als hätte mich ein Bus gestreift», antwortete ich ehrlich. «Ich habe nicht die geringste Ahnung, was passiert ist. Es ging mir doch gut.»
«Natürlich weißt du, warum du ohnmächtig geworden bist», sagte Gabriel.
Ich sah ihn groß an. «Ich habe gut gegessen und all deine Ratschläge befolgt.»
«Damit hat es nichts zu tun», sagte mein Bruder. «Es ist passiert, weil du dem Mädchen das Leben gerettet hast.»
«Das kann einen schon ziemlich schlauchen», fügte Ivy hinzu.
Ich musste beinahe lachen. «Aber Gabriel, du hast dem Mädchen das Leben gerettet», sagte ich.
Ivy gab unserem Bruder ein Zeichen, es mir zu erklären, und ging hinaus, um den Tisch für das Abendessen zu decken.
«Ich habe nur ihre körperlichen Wunden geheilt», sagte Gabriel. Ich sah ihn verständnislos an und fragte mich, ob das seine Art von Humor war.
«Was meinst du mit ‹nur›? Das ist doch gerade die Rettung. Wenn einer angeschossen wird und du die Kugel herausnimmst und die Wunde heilst, dann rettest du ihn.»
«Nein, Bethany, das Mädchen wäre fast gestorben. Wenn du ihr keine Lebenskraft gegeben hättest, hätte ich nichts für sie tun können. Indem man nur die Wunden heilt, kann man niemanden zurückbringen, der diesen Punkt überschritten hat. Du hast mit ihr gesprochen; es war deine Stimme, die sie zurückgeholt hat und deine Kraft, die ihre Seele davon abgehalten hat, sich vom Körper zu trennen.»
Ich konnte nicht glauben, was er da sagte. Ich hatte einem Menschen das Leben gerettet? Ich hatte nicht einmal gewusst, dass ich die Macht dazu hatte. Ich hatte gedacht, dass meine Kräfte auf der Erde nur schlechte Stimmung vertreiben oder Verlorenes wiederfinden konnten. Wie war es möglich, dass irgendetwas in mir es geschafft hatte, ein Mädchen auf der Schwelle zum Tod zu retten? Die Macht über das Meer, über den Himmel, über das menschliche Leben – das war Gabriels Gabe. Mir war nie der Gedanke gekommen, dass meine Macht größer sein könnte, als es mir bewusst war.
Ivy schaute mit anerkennendem Blick zu mir herüber. «Herzlichen Glückwunsch», sagte sie. «Das ist ein großer Schritt für dich.»
«Aber warum fühle ich mich jetzt so schlecht?», fragte ich, plötzlich von meinem schmerzenden Körper alarmiert.
«Jemanden wiederzubeleben kann sehr kräftezehrend sein», erklärte Ivy. «Vor allem die ersten Male. Es versetzt deiner menschlichen Gestalt einen Schock. Es wird nicht immer so sein, du wirst dich mit der Zeit daran gewöhnen und dich schließlich schneller davon erholen.»
«Du meinst, ich könnte das noch einmal schaffen?», fragte ich. «Es war kein Glücksfall?»
«Wenn du es einmal geschafft hast, kannst du es wieder tun», antwortete Gabriel. «Alle Engel haben diese Fähigkeit, aber sie entwickelt sich erst in der Praxis.»
Trotz meiner Erschöpfung fühlte ich mich plötzlich beschwingt und aß mein Abendessen mit großem Appetit. Danach lehnten Gabriel und Ivy mein Angebot ab, beim Abwasch zu helfen. Stattdessen schob mich Ivy auf die Terrasse und drückte mich in die Hängematte.
«Du hattest einen sehr anstrengenden Tag», sagte sie.
«Aber ich hasse es, nutzlos zu sein.»
«Du kannst mir gleich helfen. Ich muss einen ganzen Berg Mützen und Schals für den Basar stricken.» Ivy fand immer Zeit, Kontakt mit der Gemeinde zu halten, einfach indem sie kleine irdische Aufgaben übernahm. «Manchmal sind es die kleinen Dinge, die am meisten zählen», sagte sie.
«Du weißt schon, dass der Sinn dieser Basare ist, alte Kleider zu spenden, nicht neue herzustellen»,
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