Halo
bewegen, über das Thema zu sprechen. Gabriel und ich hatten mehrmals versucht, Informationen aus ihr herauszulocken, aber ohne Erfolg. Und darum stellte ich mir Gott, so seltsam es auch war, letztendlich genauso vor wie Michelangelo: als weisen alten Mann mit einem Bart, der auf einem Thron im Himmel saß. Das Bild in meinem Kopf entsprach vermutlich nicht der Wirklichkeit, aber eine Sache war unumstritten: Egal, wie er aussah, unser Vater war der Inbegriff der Liebe.
Sosehr ich auch jeden Tag auf Erden auskostete, gab es doch eine Sache im Himmel, die ich manchmal vermisste: die Klarheit. Es gab dort keinen Streit, keine Zwietracht, abgesehen von dem einen historischen Ereignis, das zu der ersten und einzigen Vertreibung aus dem Königreich geführt hatte. Obwohl es das Schicksal der Menschheit für immer beeinflusst hatte, wurde nur selten davon gesprochen.
Im Himmel war mir schemenhaft bewusst gewesen, dass auch eine dunklere Welt existierte, aber sie war von uns getrennt, und wir hatten meist zu viel zu tun, um darüber nachzudenken. Jeder von uns Engeln hatte eine feste Aufgabe und Verantwortungen. Manche von uns begrüßten die neuen Seelen im Königreich und halfen ihnen beim Übergang, manche erschienen am Sterbebett und spendeten den scheidenden Seelen Trost, und wieder andere waren Schutzengel für bestimmte Menschen. Ich nahm mich im Königreich der Kinderseelen an, die zum ersten Mal das Reich betraten. Es war meine Aufgabe, sie zu trösten und ihnen zu sagen, dass sie ihre Eltern eines Tages wiedersehen würden, wenn sie aufhörten zu zweifeln. Ich war eine Art himmlischer Pförtner für Vorschüler.
Ich war froh, dass ich kein Schutzengel war, sie waren meist überlastet. Es war ihre Aufgabe, den Gebeten ihrer vielen menschlichen Schützlinge zu lauschen und sie davon abzuhalten, ins Unglück zu rennen. Das konnte ziemlich hektisch werden – ich hatte einmal einen Schutzengel erlebt, der gleichzeitig versucht hatte, einem kranken Kind zu helfen, einer Frau, die eine schlimme Scheidung durchmachte, einem Mann, der gerade entlassen worden war, und dem Opfer eines Autounfalls. Es gab so viel zu tun, und wir waren nie genug, um überall sein zu können.
Xavier und ich saßen im Schatten eines Ahornbaumes im Schulhof und machten Mittagspause. Ich konnte nicht anders, ich musste die ganze Zeit seine Hand betrachten, die nur wenige Zentimeter von mir entfernt lag. Sie war schlank, aber männlich. Am Zeigefinger trug er einen schlichten Silberring. Ich war so davon in Anspruch genommen, ihn anzusehen, dass ich kaum mitbekam, was er zu mir sagte.
«Kann ich dich um einen Gefallen bitten?»
«Was? Oh, natürlich. Was brauchst du denn?»
«Könntest du meine Rede einmal durchlesen? Ich bin sie zweimal durchgegangen, aber ich bin sicher, dass ich irgendetwas übersehen habe.»
«Ja klar. Wofür ist die Rede?»
«Für eine Sitzung nächste Woche», sagte Xavier so leichthin, als würde er so etwas jeden Tag machen. «Es muss nicht sofort sein. Du kannst sie mit nach Hause nehmen, wenn du willst.»
«Nein, ich mache es gleich.»
Es schmeichelte mir, dass er meine Meinung wichtig genug fand, um mich um diesen Gefallen zu bitten. Ich breitete die Seiten flach auf der Wiese aus und las sie durch. Xaviers Rede war eloquent, aber es waren ihm einige winzige Grammatikfehler durchgerutscht, die mir schnell ins Auge fielen.
«Du bist eine gute Lektorin», bemerkte er. «Vielen Dank.»
«Keine Ursache.»
«Ernsthaft, ich bin dir etwas schuldig. Sag mir Bescheid, wenn ich irgendetwas für dich tun kann.»
«Du bist mir gar nichts schuldig», sagte ich.
«Doch, bin ich. Ach übrigens, wann hast du Geburtstag?»
Seine Frage verblüffte mich.
«Ich mag keine Geschenke», sagte ich schnell, für den Fall, dass er irgendetwas vorhatte.
«Wer hat irgendwas von Geschenken gesagt? Ich wollte nur wissen, wann du Geburtstag hast.»
«Am dreißigsten Februar», sagte ich und nannte damit das erste Datum, das mir in den Sinn kam.
Xavier hob die Augenbrauen.
«Bist du sicher?»
Ich geriet in Panik. Hatte ich irgendetwas Falsches gesagt? Ich ging im Kopf die Monate durch und erkannte meinen Fehler. Mist – der Februar hatte nur achtundzwanzig Tage!
«Ich meine dreißigster April», korrigierte ich mich und grinste schief.
Xavier lachte. «Du bist der erste Mensch, den ich treffe, der seinen eigenen Geburtstag vergisst.»
Selbst wenn ich mich selbst zum Narren machte, waren meine Gespräche mit Xavier niemals
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