Halo
den Gedanken wegzuschieben, dass, je nachdem wie das Urteil ausfiel, ich auch ihn vielleicht nie wiedersehen würde.
Wir wussten nicht, wohin Gabriel gegangen war, aber Ivy vermutete ihn an einem öden und verlassenen Ort, wo er mit den Erzengeln sprechen konnte, ohne dass Menschen störten. Es war ein bisschen, als wenn man sich per WLAN ins Internet einwählte – man musste die Stelle finden, an der die Verbindung am besten war, und je weniger Menschen in der Nähe waren, desto besser. Gabriel brauchte einen Ort, an dem er gut meditieren und die Mächte des Universums anrufen konnte.
Ich wusste nicht viel über die anderen sechs in Gabriels Zirkel. Ich kannte nur ihren Namen und ihren Ruf. Ich fragte mich, ob irgendeiner von ihnen in meinem Fall mitfühlend sein würde.
Michael war der Anführer des Zirkels. Er war der Prinz des Lichts, der Engel der Tugend, der Ehrlichkeit und der Erlösung. Seine Aufgabe war sehr speziell, er diente als Totenengel. Raphael war bekannt als Medizin Gottes, denn als Heiler war es seine Pflicht, sich um das körperliche Wohlbefinden seiner Schützlinge auf der Erde zu kümmern. Er galt als der warmherzigste der Erzengel. Uriel wurde auch Feuer des Herrn genannt, da er der Engel der Strafen war, einer von jenen, die Sodom und Gomorrha verwüsteten. Raguels wachte über die anderen im Zirkel und stellte sicher, dass sie sich den Regeln gemäß verhielten, die der Herr aufgestellt hatte. Der Engel der Sonne, Zerachiel, hielt Wache über Himmel und Erde. Ramiels Rolle war es, die göttlichen Visionen zu überwachen, die Auserwählte auf der Erde erlebten. Zu seinen Pflichten gehörte es auch, die Seelen zu Gericht zu führen, wenn ihre Zeit gekommen war.
Und dann war da natürlich Gabriel. Er war als Held Gottes bekannt, als Erster Krieger des Königreichs. Aber anders als die anderen, die weit weg und entrückt waren, sah ich Gabriel als meinen Bruder, Beschützer und Freund an. Ich erinnerte mich an ein Sprichwort der Menschen über die Kraft der Blutsbande. Auf diese Art fühlte ich für Gabriel und Ivy – wir waren von gleichem Geiste. Ich hoffte, dass ich dieses Band nicht durch diese eine leichtfertige Aktion zerstört hatte.
«Was glaubst du, was sie sagen werden?», fragte ich Ivy zum fünften Mal, und sie seufzte laut auf.
«Ich habe wirklich keine Ahnung, Bethany.» Ihre Stimme klang weit weg. «Wir hatten klare Anweisungen, unsere Identität zu wahren. Niemand hat erwartet, dass diese Regel gebrochen wird, und daher sind die Folgen nie diskutiert worden.»
«Du musst mich hassen», sagte ich mit gepresster Stimme.
Sie drehte sich um und sah mich an. «Ich verstehe nicht, was du dir dabei gedacht hast», sagte sie. «Aber du bleibst trotzdem meine Schwester.»
«Ich weiß, dass meine Tat nicht zu rechtfertigen ist.»
«Deine Menschwerdung ist anders als unsere. Du fühlst so leidenschaftlich. Für uns ist Xavier ein Mensch wie alle anderen auch, für dich ist er etwas völlig anderes.»
«Er ist alles für mich.»
«Das ist ja gerade das Leichtsinnige.»
«Ich weiß.»
«Wenn du einen anderen zum Mittelpunkt deiner Welt machst, muss es in einer Katastrophe enden. Es gibt so viele Faktoren, die du nicht beeinflussen kannst.»
«Ich weiß», wiederholte ich seufzend.
«Gibt es irgendeine Chance, dass du deine Gefühle unterdrücken kannst?», fragte Ivy. «Oder steht das außer Frage?»
Ich schüttelte den Kopf. «Es ist zu spät.»
«Ich dachte mir schon, dass du das sagen würdest.»
«Warum bin ich so anders?», fragte ich nach einer Weile. «Warum habe ich diese Gefühle? Du und Gabriel, ihr könnt kontrollieren, was ihr fühlt. Mir kommt es so vor, als ob ich überhaupt keine Kontrolle hätte.»
«Du bist jung», sagte Ivy langsam.
«Das ist es nicht.» Ich verschränkte meine Hände. «Da muss noch etwas anderes sein.»
«Ja», stimmte meine Schwester zu. «Du bist menschlicher als alle Engel, die ich kenne. Du hast dich sehr stark mit der Erde verbunden. Dein Bruder und ich haben Heimweh – dieser Ort ist fremd für uns. Aber du passt hierher. Es ist, als hättest du immer hergehört.»
«Warum?», fragte ich.
Meine Schwester schüttelte den Kopf. «Ich weiß es nicht.» Für einen Moment nahm ich einen sehnsüchtigen Blick an ihr wahr und fragte mich, ob sie sich in einem tiefen Winkel ihres Verstandes wünschte, meine Liebe für Xavier verstehen zu können. Aber der Blick verschwand, bevor ich ihn näher studieren konnte.
«Glaubst du, dass
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