Halo
Gabriel mir irgendwann vergeben wird?»
«Unser Bruder ist vollkommen anders gestrickt», erklärte Ivy. «Er ist keine Fehler gewohnt. Er sieht deine Fehler als seine eigenen an. Er wird dies als sein eigenes Versagen betrachten, nicht als deins. Kannst du das verstehen?»
Ich nickte und hörte auf, noch mehr Fragen zu stellen. Es gab jetzt nichts mehr zu tun, als zu warten, und das konnten wir auch still.
Die Sekunden tickten langsam vorbei, und die Minuten dehnten sich zu Stunden aus. Meine Angst wuchs und verringerte sich wieder, sie wogte auf und ab, wie Meereswellen. Ich wusste, dass ich wieder mit all meinen Brüdern und Schwestern zusammen wäre, wenn ich ins Königreich zurückkehren musste, aber ich würde trotzdem allein sein – und ich würde die Ewigkeit damit verbringen, mich nach dem zu sehnen, was ich auf Erden gehabt hatte. Das setzte allerdings voraus, dass ich überhaupt wieder ins Königreich zurückdurfte. Unser Herrscher, der gnädig und liebend war, mochte keinen Widerspruch. Vielleicht würde ich exkommuniziert werden. Ich verbot mir selbst, mir die Hölle vorzustellen. Ich hatte Geschichten darüber gehört, und das war genug. Die Legenden erzählten, dass die Sünder an ihren Augenlidern aufgehängt wurden, dass sie verbrannt, gefoltert, in Stücke gerissen und wieder zusammengesetzt wurden. Sie erzählten, dass der Ort nach verbranntem Fleisch und angesengtem Haar stank und dass in den Flüssen Blut floss. Natürlich glaubte ich das meiste nicht, aber die Vorstellung ließ mich trotzdem schaudern.
Ich wusste, dass viele Menschen nicht glaubten, dass es einen Ort wie die Hölle gab, aber sie hatten keine Ahnung, wie sehr sie sich irrten. Engel wie ich hatten keine große Vorstellung von der Hölle, aber Näheres wollte ich auch nicht herausfinden. Als Erzengel wusste Gabriel sicher mehr über das finstere Königreich, aber er durfte nicht darüber sprechen.
Ich sprang auf, als ich die Haustür hörte, und das Herz schlug mir bis zum Hals. Einen Augenblick später stand Gabriel vor uns. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt, sein Gesicht wirkte sorgenvoll, aber wie gewöhnlich unergründlich. Ivy stand auf und stellte sich neben ihn, ohne sichtliche Ungeduld, das Urteil zu erfahren.
«Was haben sie entschieden?», platzte ich heraus. Ich hielt die Spannung einfach nicht aus.
«Der Bund bedauert es, Bethany für diese Mission ausgewählt zu haben», sagte Gabriel. Seine scharfen Augen hatten mich fest im Blick. «Man hatte sich von einem Engel mit ihrem Leumund mehr erwartet.»
Ich spürte, wie ich zu zittern begann. Das war es also, alles war vorüber. Ich würde dahin zurückkehren, woher ich gekommen war. Einen Moment lang erwog ich, einfach wegzulaufen, wusste aber, dass das unmöglich war. Es gab keinen Ort auf der Erde, der mich verbergen konnte. Ich stand auf, senkte den Kopf und begab mich zu den Treppen.
Gabriels Augen wurden schmal. «Was hast du vor?»
«Ich mache mich bereit für die Abreise», antwortete ich und versuchte, alle Kraft zusammenzunehmen und ihm in die Augen zu sehen.
«Abreise wohin?»
«Zurück nach Hause.»
«Bethany, du kehrst nicht nach Hause zurück. Keiner von uns tut das», sagte er. «Du hast mich noch nicht ausreden lassen. Man ist sehr enttäuscht über das, was du getan hast, aber der Beschluss des Bundes, deine Mission zu beenden, wurde zurückgewiesen.»
Mein Kopf fuhr hoch. «Von wem?»
«Einer höheren Macht.»
Ich griff wie wild nach diesem Hoffnungsstrohhalm. «Du meinst, wir bleiben? Sie holen mich nicht weg?»
«Es scheint zu viel in diese Mission investiert worden zu sein, als dass man alles nur wegen eines kleinen Rückschlags über den Haufen werfen könnte. Darum ist die Antwort ja, wir bleiben.»
«Was ist mit Xavier?», fragte ich. «Darf ich ihn wiedersehen?»
Gabriel wirkte gereizt, als ob die Entscheidung, die zu diesem Thema gefällt worden war, ausgesprochen belanglos war.
«Es ist dir gestattet, den Jungen weiter zu sehen, solange wir hier sind. Da er bereits weiß, wer wir sind, würde es mehr Schaden als Nutzen bedeuten, dich von ihm fernzuhalten.»
«Oh, vielen Dank», begann ich, aber Gabriel unterbrach mich.
«Da ich die Entscheidung nicht getroffen habe, gebührt mir auch kein Dank.»
Wir alle fielen in ein schmerzhaftes Schweigen, das mehrere Minuten andauerte, bis ich wagte, es zu brechen.
«Bitte sei nicht böse auf mich, Gabriel. Natürlich hast du jedes Recht darauf, wütend zu sein, aber du
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