Hals über Kopf: 9. Fall mit Tempe Brennan
verhaftet worden. Lutetia kannte die Symptome. Sie hatte das schnelle Leben selbst ausprobiert. Dabei hatte sie Ryan kennen gelernt, während seines eigenen jugendlichen Abstechers in die Subkultur. Da sie wusste, dass ihr längst verflossener Geliebter nun Polizist war, hatte Lutetia beschlossen, dass er seinen Teil dazu beitragen sollte, seine eben erwachsen gewordene Tochter zu retten.
Obwohl diese Nachricht Ryan in den Solarplexus getroffen hatte, hatte er doch seine Vaterschaft akzeptiert und gab sich nun große Mühe. Dieser Besuch in Nova Scotia war sein jüngster Vorstoß in die Welt seiner Tochter. Aber Lily machte es ihm nicht eben leicht.
»Nur ein Wort«, sagte ich. »Geduld.«
»Okay, meine weise Beraterin.« Ryan wusste, dass auch ich mit meiner Tochter Katy so meine Probleme hatte.
»Wie lang bleibst du in Halifax?«
»Mal sehen, wies läuft. Ich habe den Gedanken, dich zu besuchen, noch nicht aufgegeben, falls du da unten noch ein Weilchen rumhängst.«
O Mann.
»Das könnte kompliziert werden. Pete hat eben angerufen. Er wird vermutlich ebenfalls für ein paar Tage hier sein.«
Ryan wartete.
»Er hat geschäftlich in Charleston zu tun, deshalb hat Anne ihn eingeladen. Was hätte ich sagen sollen? Es ist Annes Haus, und es hat genug Betten, um das Kardinalskollegium unterzubringen.«
»Betten oder Schlafzimmer?«
Manchmal hatte Ryan das Taktgefühl eine Abrissbirne.
»Rufst du mich morgen wieder an?«, beendete ich das Thema.
»Schrubbst du die Nummer wieder von der Wand im Männerklo?«
»Darauf kannst du Gift nehmen.«
Nach den Gesprächen mit Pete und Ryan war ich aufgedreht. Vielleicht war es aber auch das ungeplante Nickerchen. Ich wusste, ich würde nicht schlafen können.
Ich zog Shorts an und ging barfuß über den Holzsteg. Es herrschte Ebbe, und der Strand war gut fünfzig Meter breit. Unzählige Sterne funkelten am Himmel. Während ich am Wasserrand entlangging, ließ ich meine Gedanken schweifen.
Pete, meine erste Liebe. Meine einzige Liebe für mehr als zwanzig Jahre.
Ryan, mein erster Versuch seit Petes Untreue.
Katy, meine wunderbare, flatterhafte, hoffentlich bald graduierte Tochter.
Vorwiegend aber dachte ich über dieses traurige Grab auf Dewees nach. Gewaltsamer Tod ist mein Job. Ich sehe ihn oft, gewöhne mich aber nie daran.
Inzwischen betrachte ich Gewalt als eine sich selbst perpetuierende Machtbesessenheit der Aggressiven gegenüber den weniger Starken. Freunde fragen mich, wie ich meine Arbeit überhaupt ertragen kann. Es ist ziemlich einfach. Es ist mir ein Anliegen, diese Wahnsinnigen zu vernichten, bevor sie noch mehr Unschuldige vernichten können.
Gewalt verletzt den Körper und verletzt die Seele. Des Täters. Und des Opfers. Der Trauernden. Der gesamten Menschheit. Sie nimmt uns allen etwas.
Meiner Ansicht nach ist ein anonymer Tod die tiefste Beleidigung der menschlichen Würde. Die Ewigkeit unter einem namenlosen Grabstein zu verbringen. In einem unmarkierten Grab zu verschwinden, ohne dass diejenigen, die einen liebten, wussten, dass man von ihnen gegangen war. Das verletzt. Ich kann die Toten zwar nicht mehr ins Leben zurückholen, aber ich kann Opfern ihre Namen wiedergeben und den Hinterbliebenen helfen, in ihrer Trauer zu einem Abschluss zu kommen. In dieser Hinsicht gebe ich den Toten noch einmal eine Stimme, damit sie ein letztes Mal Lebwohl sagen und manchmal auch mitteilen können, was ihnen das Leben genommen hat.
Ich wusste, ich würde tun, worum Emma mich gebeten hatte. Weil ich so bin, wie ich bin. Weil ich so empfinde. Ich würde nicht einfach weggehen.
4
Am nächsten Morgen lag ich im Bett und starrte ins Licht des anbrechenden Tages. Ich hatte vergessen, die Jalousien herunterzulassen, und nun schaute ich zu, wie die aufgehende Sonne das Meer, die Dünen und die Veranda vor Annes Glasschiebetüren färbte.
Ich schloss die Augen und dachte an Ryan. Seine Reaktion war zu erwarten gewesen und eigentlich witzig gemeint. Aber ich fragte mich, was er sagen würde, wenn er hier wäre. Wenn er das Grab gesehen hätte. Und ich bedauerte, dass ich mich über ihn geärgert hatte. Er fehlte mir. Wir hatten uns seit über einem Monat nicht gesehen.
Ich dachte an Pete. Liebenswürdiger, charmanter, untreuer Pete. Ich sagte mir, dass ich ihm bereits vergeben hatte. Aber hatte ich das wirklich? Falls nicht, warum reichte ich dann nicht die Scheidung ein und befreite mich endgültig von ihm?
Anwälte und Papierkram. War das wirklich der
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