Hals über Kopf: 9. Fall mit Tempe Brennan
der anderen Experten in eine zentrale Fallakte einfügen und auswerten.
Kurz darauf im Autopsiesaal kontrollierte Emma noch einmal die Unterlagen, schrieb die Fallnummer auf ein Identifikationskärtchen und fotografierte den ungeöffneten Leichensack. Ich schaltete meinen Laptop ein und ordnete Arbeitsblätter auf einem Klemmbrett.
»Fallnummer?« Ich würde das Codierungssystem des Charleston County Coroners verwenden.
Emma hielt das Identifikationskärtchen in die Höhe. »Ich habe es als O2, ungeklärt, codiert. Es ist in diesem Jahr Coroner-Todesfall Nummer zweihundertsiebenundsiebzig.«
Ich trug CCCC-2006020277 in mein Fallformular ein.
Emma breitete ein Tuch über den Autopsietisch und hängte ein Sieb ins Spülbecken. Dann banden wir uns Plastikschürzen um, setzten Atemmasken auf und streiften uns Gummihandschuhe über.
Emma zog den Reißverschluss des Sacks auf.
Die Haare befanden sich in einem kleinen Plastikbehälter, die losen Zähne in einem anderen. Ich stellte beides auf die Arbeitsfläche.
Das Skelett war so, wie ich es in Erinnerung hatte, größtenteils intakt, wobei jedoch nur ein paar Wirbel sowie Schien- und Wadenbein linksseitig noch Reste vertrockneten Bindegewebes aufwiesen. Die nicht mehr miteinander verbundenen Knochen waren beim Transport durcheinandergeworfen worden.
Wir begannen damit, dass wir alle sichtbaren Insekteneinschlüsse extrahierten und in Glasröhrchen steckten. Dann reinigten Emma und ich die Knochen so gut es ging von Erdpartikeln, die wir für eine spätere Untersuchung aufbewahrten. Dabei arrangierte ich die einzelnen Knochen in anatomisch korrekter Anordnung auf dem Tuch.
Bis zum Mittag war dieser mühselige Prozess abgeschlossen. Auf der Arbeitsfläche standen zwei Plastikbehälter und vier Glasröhrchen, auf dem Tisch lag ein Skelett, Hand- und Fußknochen ausgebreitet wie bei einem Muster in einem Katalog für Biologiebedarf.
Wir machten eine kurze Pause und gingen in die Cafeteria. Emma bestellte sich ein großes Coke und eine Götterspeise. Ich nahm Chips und ein sehr fragwürdiges Thunfisch-Sandwich. Um eins waren wir wieder im Autopsiesaal.
Während ich inventarisierte, die einzelnen Knochen identifizierte und sie in links und rechts unterteilte, schoss Emma weitere Fotos. Dann verschwand sie mit Schädel, Unterkiefer und den losen Zähnen, um dentale Röntgenaufnahmen zu machen.
Ich wandte mich eben der Geschlechtsbestimmung zu, als Emma zurückkehrte. Ich vermutete bereits, dass das Opfer männlich war, da die meisten Knochen ziemlich groß waren und kräftige Muskelansätze aufwiesen.
»Bereit fürs Geschlechtliche?«, fragte ich.
»Habe Kopfweh.«
Ja. Ich mochte diese Frau.
Ich nahm eine Beckenhälfte zur Hand und deutete auf die Vorderseite.
»Schambein ist kräftig, der untere Ast dick, und der subpubische Winkel ist eher ein V als ein U.« Ich drehte den Knochen um und fuhr mit dem Finger in eine Höhlung unterhalb der breiten Beckenschaufel, eine Einbuchtung der hinteren Sitz- und Darmbeinkante. »Incisura ischiadica ist schmal.«
»Du denkst Y-Chromosom.«
Ich nickte. »Dann wollen wir uns mal den Schädel anschauen.«
Emma gab ihn mir.
»Kräftige Brauenwülste, stumpfe Augenhöhlenränder.« Ich drehte den Schädel. Das Hinterhaupt zeigte in der Mitte einen großen Höcker. »Protuberantia occipitalis ist so groß, dass sie schon fast eine eigene Postleitzahl braucht.«
»Durch und durch ein Junge.«
»O ja.« Ich schrieb »männlich« in mein Fallformular.
»Alter?«, fragte Emma.
Im Allgemeinen erscheint der letzte Backenzahn erst kurz vor oder kurz nach dem zwanzigsten Lebensjahr, ungefähr zu dem Zeitpunkt, zu dem auch das Skelett seine Entwicklung beendet. Das letzte skelettale Wachstumszentrum ist eine kleine Kappe an der Halsseite des Schlüsselbeins. Zusammengenommen bilden claviculäre Verschmelzung und Weisheitszahn gute Indikatoren fürs Erwachsensein.
»Alle Backenzähne vorhanden?«, fragte ich.
Emma nickte.
Ich nahm das Schlüsselbein zur Hand.
»Mediale Epiphyse ist verschmolzen.« Ich legte den Knochen auf den Tisch. »Er war also kein Jugendlicher mehr.«
Ich wandte mich noch einmal dem Becken zu. Wieder interessierte mich die Bauchseite, diesmal der Rand, der im Leben den Rand der zweiten Beckenhälfte geküsst hatte. Bei jungen Erwachsenen haben diese Ränder eine Topografie wie die Shenandoah Mountains: nur Berge und Täler. Mit zunehmendem Alter werden die Berge abgeschliffen, die Täler
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