Hals über Kopf: 9. Fall mit Tempe Brennan
sterben.
Sterben?
Ich erstarrte, als eine weitere kaleidoskopische Assoziationskette auf eine weitere schreckliche Erkenntnis zusteuerte.
Marshall war der Mörder, doch der Fall gegen ihn fußte nur auf Indizien. Wer konnte ihn wirklich überführen?
Der Pilot, nur der konnte es.
Falls Shorter tatsächlich für Marshall arbeitete, dann war er für ihn ein großes Problem. Falls der Staatsanwalt Shorter in die Finger bekam, würde sich dieser vielleicht auf einen Handel einlassen. Sollte Shorter die Seiten wechseln, konnte seine Aussage Marshall und Rodriguez Kopf und Kragen kosten.
Marshall war skrupellos. Marshall war Zamzow entkommen und lief jetzt frei herum. Marshall war sich natürlich bewusst, welches Risiko Shorter darstellte. Er würde versuchen, dieses Risiko aus dem Weg zu schaffen. Wenn ihm das gelänge, könnte er dadurch eine Verurteilung verhindern. Wenn nicht, war es nichts als ein weiterer Mord.
Ich drückte eben die Tasten auf meinem Handy, als eine Schwester die Tür öffnete. Sie spitzte die Lippen, deutete auf meine Hand und schüttelte den Kopf.
Ich steckte das Handy ein, lief aus dem Zimmer und den Korridor hinunter. Schmuddelige, im Wechsel aufleuchtende Kontrolllämpchen zeigten an, dass sich der Aufzug langsam nach oben bewegte.
Na komm schon!
Die Türen gingen auf. Ich stürzte hinein und rannte beinahe die anderen Fahrstuhlbenutzer über den Haufen. Langsam setzte sich die Kabine in Bewegung.
Na komm schon!
Die Eingangshalle war menschenleer. Ich lief zur Tür hinaus und wählte dabei Gullets Nummer.
Noch immer keine Antwort.
Verdammt.
Was war am Fähranleger los? Auf Dewees? Vor Daniels Wohnung? An der Bohicket?
Was war auf dem Flugplatz an der Clement’s Ferry Road los?
Tybee war meine größte Sorge. Er hatte keine Ahnung, dass Shorter ein potenzielles Opfer war. Auch Shorter würde einen Angriff von Marshall kaum erwarten. Der Arzt hatte wenig zu verlieren, aber alles zu gewinnen, indem er den Piloten aus dem Weg räumte. Marshall hatte keine Ahnung, dass nach Daniels gefahndet wurde, und wahrscheinlich vor, Daniels den Mord an Shorter in die Schuhe zu schieben. War Marshall ein Schütze? Hatte er auf Pete geschossen? Die IOP-Polizei hatte noch keine neuen Erkenntnisse über die Schießerei. Bei den Durchsuchungen von Marshalls Büro und seinem Haus war keine Schusswaffe gefunden worden.
Atemlos sprang ich ins Auto. Drehte den Zündschlüssel. Zögerte.
Isle of Palms? Gullet?
Clements Ferry Road? Tybee?
Tybee könnte in Gefahr sein.
Wie viele Menschen hatte Marshall umgebracht? Falls Tybee zufällig Zeuge eines Anschlags auf Shorter wurde, dann würde Marshall nicht zögern, ihn ebenfalls zu töten. Von den beiden wäre Tybee leichter zu überraschen. Sein Streifenwagen wäre unübersehbar. Auf einen Angriff wäre Tybee nicht vorbereitet.
Mit zitternden Fingern wählte ich die Nummer des Sheriffs. Dieselbe Telefonistin. Sie wollte etwas sagen, doch ich schnitt ihr das Wort ab und forderte sie auf, Gullet und Tybee zu sagen, dass ich sie dringendst sprechen müsse.
»Sheriff Gullet und Deputy Tybee sind im Augenblick nicht zu erreichen.«
»Funk. Telefon. Brieftaube.« Es war fast schon ein Kreischen. »Es ist mir egal, wie Sie es anstellen, aber übermitteln Sie ihnen meine Nachricht.«
Ich hörte, wie am anderen Ende scharf eingeatmet wurde.
»Tybee könnte in Gefahr sein.«
Ich schaltete ab.
Was jetzt? Gullet hatte mir mehr als deutlich zu verstehen gegeben, dass er mich bei Daniels Verhaftung nicht dabeihaben wollte. Ich wusste nicht einmal genau, wo sich der Sheriff befand. Tybee dürfte inzwischen am Flugplatz sein, aber ich war mir nicht ganz sicher, wo der genau lag. Am besten wartete ich einfach zu Hause ab. Einer von beiden würde mit Sicherheit demnächst anrufen.
Ich hatte vergessen, im Haus das Licht anzulassen. Das Sea for Miles war dunkel, doch eine Mondsichel warf einen schummrigen Schein auf die Außenmauern, wie von einer schwachen Straßenlaterne.
Boyd bellte, als ich den Schlüssel im Schloss drehte, und sprang dann in Kreisen um mich herum. Ich stellte meine Handtasche ab und kontrollierte den Anrufbeantworter des Hausanschlusses. Keine Nachrichten.
Das Haus wirkte unheimlich. Kein Pete. Kein Ryan. Zu viele Zimmer und zu viel Stille für eine einzelne Person. Nur gut, dass wenigstens der Hund und die Katze da waren. Abwechselnd kraulte ich die beiden.
Ich schaltete den Fernseher an und schaute eine Weile Nachrichten, konnte mich
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