Halsknacker
Wohnzimmer Watzingers streifen: keine zur Schau gestellten Pokale, keine Medaillen, ja nicht einmal die unter Sportlern so beliebte Fotogalerie.
»Nein, g’wonnen hab ich nichts. Ich war ja der Böse im Ring, also der, den das Publikum verlieren sehen wollt’. Und was das Publikum sich g’wünscht hat, das war immer oberstes Gebot: Die Kämpfe waren natürlich vorher abgesprochen, bis ins Kleinste choreografiert. Das hat aber nichts an der sportlichen Note geändert, ganz im Gegenteil: So ist halt zur Athletik noch die Disziplin dazugekommen. Es ist gar nicht so leicht, einen Gegner gewinnen zu lassen, der dir heillos unterlegen ist.« Watzinger beugt sich schwerfällig vor, zieht eine Zigarette aus der Packung auf dem Tisch und steckt sie sich ins runzlige Gesicht. »Sie müssen sich das vorstellen: jeden Abend volles Haus, zehntausend, zwölftausend Leut, Herr Kommissar! Seinerzeit haben wir noch Extratribünen gehabt, bis hinauf zum Konzerthaus, aber die haben sie später dann abmontiert. In den Achtzigern sind ja die Zuschauer zunehmend ausgeblieben; der moderne Mensch will sich halt lieber z’ Haus vorm Fernseher beschwindeln lassen. Im Achtundneunzigerjahr war alles endgültig vorbei, das war die letzte trostlose Saison der Heumarktringer. Gut, dass ich’s nicht mehr erleben hab müssen.«
Der Polivka raucht sich jetzt auch eine an. »Und der Hudak?«, fragt er. »Was war das für einer?«
»Der Hudak Karl? Meiner Seel, was soll ich sagen? Wortkarg war er und ein bissel verklemmt. Zum Beispiel hat ihm der Veranstalter einmal gesagt, dass sich die Schiedsrichter am Abend Schottenröcke anziehen sollen, das tät den Leuten draußen g’fallen. Der Hudak hat sich aber strikt geweigert. Transvestiten kannst du dir woanders suchen, hat er g’sagt, also hat am End ein anderer den Job gemacht.«
»Und deshalb ist er ausgestiegen aus dem G’schäft?«
»Nicht deshalb, nein. Ich glaub, er hat im Lotto g’wonnen oder irgendwas geerbt. Genau kann ich’s nicht sagen, das war ja schon nach meiner Zeit.«
»Und Ihre früheren Kollegen? Haben Sie noch Kontakt mit denen?«
»Nein. Schon lang nicht mehr. Die meisten waren ja auch von auswärts: Der wilde Mugumba beispielsweise – der hat immer einen Gürtel angehabt, an dem so kleine Schrumpfköpfe gebaumelt sind –, der war in Wahrheit Italiener. Oder Jochen, der Knochenbrecher Schulze: ein Exmatrose aus Hamburg. Ich weiß gar nicht, ob die alle noch am Leben sind.«
Der Polivka zückt den Notizblock und blättert, bis er die richtige Seite gefunden hat. Nicht mehr als zwei Namen sind darauf vermerkt: sein Gegenüber Gustav Watzinger und … »Was ist mit dem Krutitz?«, fragt der Polivka. »Paul Krutitz. Das ist doch ein Wiener.«
Watzinger grinst. »Den gibt’s noch, den Krutitz? Pawel Gulag Krutnikow, so hat er im Ring geheißen. Er war einer von den Bösen, so wie ich. Verfilzter Vollbart, dreckiges Trikot mit einem aufgenähten Sowjetstern. Wenn er die Leute angepöbelt hat, dann hat man seine Zahnlücken gesehen; die waren natürlich aufgemalt, mit einem schwarzen Stift. Der Krutitz ist mit einer Riesenflasche Wodka aufgetreten, jedenfalls ist das am Etikett gestanden, und das Publikum hat ihn dafür gehasst. Nach einem guten Griff – zum Beispiel einem Ohrenreiberl oder einem Nackenstaucher – hat er jedes Mal die Fäuste in die Luft gestreckt und seine Achselhöhlen beschnuppert. Ja, der Krutitz Pauli … Sagen S’, wie geht’s ihm denn? Haben Sie ihn auch schon getroffen?«
»Noch nicht.«
»Dann lassen S’ ihn doch bitte herzlich grüßen, wenn S’ ihn sehen.«
Paul Krutitz also ist die letzte Spur einer Chance auf den Hauch einer Spur in der Mordsache Hudak. Dem Polivka hat Krutitz heute Nachmittag am Telefon gesagt, er sei – nach langen Jahren im Ausland – erst kürzlich wieder nach Wien übersiedelt. Er wohne deshalb noch zur Untermiete und sei nicht empfangsbereit; mit einem abendlichen Treffen im Kaffeehaus sei er aber einverstanden. Und so kommt es, dass der Polivka jetzt an den Ort der Tat zurückkehrt, in die Raucherkammer des Cafés am Heumarkt.
Pawel Gulag Krutnikow ist bereits da: Ein wohlbeleibter Greis im Tweedjackett, so sitzt er breit an jenem Tisch, auf jenem Stuhl, auf dem der Ringrichter Karl Hudak gestern hingerichtet worden ist. Auf Krutitz’ Nase sitzt ein wackeliges Brillengestell, um sein gerötetes Gesicht wallt ein enormer weißer Bart. Kaum, dass der Polivka den Raum betritt, stellt er sein Krügel Bier ab
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