Haltlos
Raum betrat. Und wie immer scheuchte das die Schmetterlinge auf und warmes Glück breitete sich in ihr aus. Sie lächelte zurück und musste prompt an letzten Samstag denken.
Die Vorlesung begann. Sie konzentrierte sich nicht wirklich, denn sie hatte ja alles schon vor zwei Tagen durchdacht. Dafür präsentierte ihr Kopfkino heute einen neuen Streifen «Leidenschaftliche Küsse zwischen Studentin und Professor». Eine leichte Röte stieg ihr in die Wangen und ein intensives Kribbeln breitete sich in ihrem Bauch aus.
Zum Glück waren ihre Freunde vollauf mit der Vorlesung beschäftigt, so dass keiner auf sie achtete. Sie blickte verträumt nach vorn. „Er sieht aber auch gut aus.“ Nie hätte sie gedacht, dass «nur küssen» so sein konnte. Am liebsten wäre sie jetzt wieder bei ihm und würde…
Plötzlich sah sie, dass die Luft um den Professor zu flirren begann.
Dann hörte sie seine mühsam beherrschte Stimme im Kopf: „Victoria, ich würde deine Gedanken lieber jetzt als heute Abend wahr werden lassen, glaube mir! Aber wenn du nicht möchtest, dass ich mich jetzt gleich verwandle und dich an einen einsamen Ort entführe, dann bitte, BITTE schirme deine Gedanken ab. Du bringst mich hier gerade völlig um den Verstand!“
Augenblicklich wurde Victoria knallrot. Daran hatte sie gar nicht mehr gedacht.
„Sorry…“
Sofort zog sie ihre Gedankenfenster zu. Das war ja voll peinlich! Am liebsten würde sie sofort im Erdboden versinken – aber das würde bestimmt auffallen und gerade das wollte sie jetzt überhaupt nicht. Also atmete sie tief durch und tat das, was sie bisher immer in solchen Situationen getan hatte: Sie konzentrierte sich auf die Mathematik.
Als Professor Custos Portae gegen Ende der Vorlesung seine Unterlagen zusammensuchte öffnete sie zerknirscht ihre Gedankenfenster wieder. „Es tut mir wirklich leid wegen vorhin, Jaromir. Das wollte ich nicht. Ich vergesse einfach immer wieder, dass ich meine Gedanken abschirmen muss – gerade wenn du in der Nähe bist.“
Victoria hörte die Wärme in seiner Antwort: „Keine Sorge, Kleines. Ich bin dir nicht böse. Ich bin vielmehr sauer auf mich selbst… Mein Mentor hat schon in meiner Ausbildungszeit immer wieder betont, dass ich mehr an meiner Selbstbeherrschung arbeiten muss. Und ich schwöre dir, das werde ich zukünftig auch tun. … Sag mal, soll ich dich nachher gleich mitnehmen?“
Sie war erleichtert und entgegnete: „Nein, brauchst du nicht. Das Wetter ist so schön, dass ich mit dem Rad zur Uni gefahren bin.“
„Prima, dann sehen wir uns in zwei Stunden bei mir.“
Ihre Freunde hatten die Sachen längst eingepackt und Falk sagte: „Hey Victoria, träumst du?“
Felix fiel breit grinsend mit ein: „Die Vorlesung ist vorbei und geht erst am Mittwoch weiter; du kannst jetzt einräumen.“
„Jetzt lass sie doch mal!“, schimpfte Sabine und fragte Victoria besorgt: „Geht es dir gut? Du wirkst schon die ganze Zeit so abwesend…“
„Ja“, antwortete Victoria lahm, „alles in Ordnung. Ich bin nur ein bisschen müde.“
Dann räumte sie zusammen und verließ mit ihren Freunden den Hörsaal. „Ich muss echt mehr auf mein Verhalten achten, sonst brauche ich mir keine Mühe geben, meine Gedanken abzuschirmen, denn meine Freunde werden noch vor Semesterende genau wissen, was hier los ist…“
Victoria war froh, dass Professor Wilhelms in der Stochastikvorlesung ein ordentliches Tempo vorlegte und sie keine Zeit mehr für andere Gedanken hatte.
Gegen viertel vor vier war dann auch endlich ihre letzte Vorlesung für diesen Tag zu Ende. Normalerweise hatte Victoria an der Mathematik so viel Spaß, dass sie fast enttäuscht war, wenn die Dozenten ihre Veranstaltung schlossen. Heute war das anders. Sie hatte ihre Unterlagen ratzfatz in den Rucksack gesteckt und stand auf, bevor Falk auch nur seinen Kugelschreiber weggesteckt hatte.
Das irritierte ihren Kommilitonen. „Was ist denn mit dir los, Victoria? In Geometrie träumst du und jetzt kannst du gar nicht schnell genug hier wegkommen… Habe ich irgendwas nicht mitbekommen?“
Sie grinste. „Ach Falk, du kannst doch wohl kaum erwarten, dass ich dir all meine Termine mitteile. Ich muss jetzt eben noch was erledigen.“
Er sah sie zweifelnd an. „Und was ist so dringend, dass du mit wehenden Fahnen aus dem Hörsaal rennst?“
Sie hatte bereits die Treppe am Rand erreicht und lachte. „Es geht dich zwar nichts an, aber ich muss zum Zahnarzt.“
Er verzog das Gesicht,
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