Halva, meine Sueße
Abschied an die Mütze und verließen die
Wohnung.
»Allah sei uns gnädig«, murmelte Raya. Sie lehnte an der
Spüle.
»Ich muss Ihre Personalien aufnehmen, Herr Mansouri.«
Mudi nickte wie betäubt.
»Sind Sie berufstätig?«
»Nein. Noch nicht. Ich bin Student.«
»Student? Was studieren Sie denn?«
»Rechtswissenschaften.«
Der Polizist zog die Augenbrauen hoch, doch Raya sagte
schon: »Sein Großvater war im Iran ein bekannter Richter.
Mudi wird in seine Fußstapfen treten.«
Der Beamte zuckte mit den Achseln. »Wohl kaum. Mit
der Vorstrafe, die ihm jetzt wahrscheinlich blüht, kann Ihr
Sohn eine juristische Karriere vergessen.« Er steckte seinen
Block weg und wandte sich wieder an Mudi. »Sobald meine
Kollegen mit Ihrem Vater gesprochen haben, begleiten Sie
mich bitte zur Identifizierung durch Herrn Blessing aufs
Revier. Sie können von Glück sagen, dass Doktor Blessing
nicht schwerer verwundet worden ist. Sonst sähe das alles
noch mal ganz anders aus.«
In der Küche war es totenstill.
Mit der Vorstrafe, die ihm jetzt wahrscheinlich blüht, kann er
eine juristische Karriere vergessen.
Worte, die alles zunichtemachten.
Alles, seit dem Tag, an dem sie Mamii zum letzten Mal gesehen
hatten. Alle Hoffnung, aller Ehrgeiz, alle Mühe. Halva sah ihre Mutter an und wusste genau, was sie fühlte: Im
Grunde hatte Mudi alles gegolten, was sie auf sich genommen
hatten. Alles.
Ein bitterer Geschmack breitete sich in Halvas Mund aus.
Sie blickte zu ihrem Bruder hinüber und sah Mudi und sich
in Mamiis Innenhof Fußball spielen, rund um den Brunnen,
in dem die bunten Mosaiksteine fehlten. Mudi und sie hier
in Deutschland. So viel Lachen, so viel Zuneigung, Zusammenhalt
und so viel Gemeinsamkeit. Mudi, der immer für
sie eingestanden war. Der sie zu seiner Erstsemesterparty
mitnahm. Arglos, ohne sich dabei etwas zu denken. So voll
Hoffnung und Überzeugung, dass diese Welt auf ihn und auf
niemand anderen wartete.
Bis sie Kai getroffen hatte und alles anders wurde.
Raya sank auf einen der Küchenstühle. Ihr Gesicht war
aschfahl geworden. »Was?«, flüsterte sie nur, als sei sie am
Ende aller Worte angelangt.
Mudi legte seine Ellenbogen auf den Tisch und vergrub
seinen Kopf in der Armbeuge. Seine Schultern zuckten.
Raya strich ihm stumm und mit zitternden Fingern durch
die Haare. Dann sah sie auf. Ihr Blick traf den von Halva.
Ein Blick, der Halva in Flammen setzte und der alle Verbundenheit,
die sie eben noch mit ihrer Mutter empfunden
hatte, zunichtemachte. Auf immer.
Raya flüsterte auf Farsi: »Das ist deine Schuld. Wie willst
du das jemals wiedergutmachen?«
Als Mudi und Raya den Polizisten auf das Revier begleitet
hatten, blieb Halva allein in der Wohnung zurück. Bei all
der Verwirrung und der Anwesenheit der Polizisten hatte niemand daran gedacht, sie wieder in ihr Zimmer einzusperren.
Die Luft im Wohnzimmer war warm und stickig, denn
die Heizung war wie immer voll aufgedreht. Halva brach der
Schweiß aus. Sie sah auf die mit Cord bezogenen Sitzkissen
und die bunten Muster des abgewetzten Teppichs. Der
Zimmerspringbrunnen plätscherte und wechselte die Farbe.
Halva konnte sich nicht rühren. Sie fühlte sich wie in einem
Kokon. Die Welt war dumpf.
Schließlich bewegte sie sich doch, aber es fühlte sich an
wie ferngesteuert. Neben der Tür stand der Schreibtisch, in
dem Baba ihre Pässe aufbewahrte.
Halva zog die oberste Schublade auf und suchte kurz
unter den verschiedenen Dokumenten. Dann hielt sie die
vier ehemals so heiß begehrten dunkelroten Ausweise in der
Hand.
Bundesrepublik Deutschland
war unter dem goldenen
Bundesadler zu lesen. Halva fühlte sich, als hätte sie Blei
geschluckt. Sie öffnete ihren Pass. Halva Mansouri. Wie froh
sie auf dem Bild lächelte. Nun hatte sie ihre Dokumente. Sie
konnte einfach aus der Tür marschieren, hinaus in ein Leben
mit Kai. Sie legte den Ausweis auf die Schreibtischplatte, als
sie auch die iranischen Pässe der Familie in der Schublade
entdeckte. Halva suchte den ihren und nahm ihn ebenfalls,
ehe sie alle anderen Dokumente wieder zurücklegte.
Gerade wollte sie die Schublade zuschieben, als ihr Blick
auf noch etwas fiel: einen bunt gestreiften Umschlag.
Pegasus
Airlines
stand darauf gedruckt. Ihre Finger zitterten, als sie
ihn öffnete und das oberste Ticket herauszog. Es war ihres,
ausgestellt für den 16. Juli dieses Jahres. Drei Tage nach der
Verleihung ihres Abiturs. Sie sah auf das Stück Papier, das ein Todesurteil für ihre Liebe zu Kai war,
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