Halva, meine Sueße
Familien luden auch
die entferntesten Bekannten ein, um ihren Wohlstand und
ihren Einfluss zu beweisen.
Als Halva ihre Stimme wiederfand, fragte sie: »Wie hast
du das ertragen? Einen anderen Mann zu heiraten, während
der, den du wirklich geliebt hast, dir dabei auch noch
zusah?«
»Seltsamerweise gab seine Anwesenheit mir Kraft. Er
hatte schließlich seine Wahl so getroffen wie ich meine. Er
wollte den Kampf gegen das Regime der Mullahs, ich ein
friedliches Leben mit Mann und Kindern.«
»Und dann?«, fragte Halva. Sie kannte Raya immer nur
als ihre Mutter, die dafür sorgte, dass das Familienleben reibungslos
ablief. Was hatte sich damals hinter verschlossenen
Türen abgespielt? Sie dachte an alte Fotos, auf denen Raya
als junge Frau zu sehen war: die Haare im Stil der 80er-Jahre
frisiert, lachend, in den bunten und von Mamii noch in Paris
gekauften Kleidern, die später umgearbeitet worden waren.
»Ach, weißt du, wenn man einen Mann mal eine Weile
hat, dann mag man ihn auch«, sagte Raya, doch sie mied
Halvas Blick.
Eine Gänsehaut überlief Halvas Arme. Sie schob den Teller
beiseite, denn der Appetit war ihr vergangen. War es
das,
was ihre Mutter sich für sie erhoffte? Ein Leben voll Anpassung, voll Gewöhnung, voll tagtäglicher demütigender
Kompromisse? Niemals!
»Und im Iran hatte ich es an Cyrus’ Seite viel leichter«,
ergänzte Raya. »Du weißt ja, jeder Tag dort bedeutet ein vorsichtiges
Lavieren. Alles ist möglich und alles ist unmöglich.«
»Und in dieses Land willst du mich zurückschicken,
Mama? Deine einzige Tochter?«, fragte Halva.
Raya umarmte sie und Halva ließ es geschehen. Beide
lauschten nur ihrem gegenseitigen Atem, ehe Raya mühsam
sagte: »Ich will dir ja helfen. Aber ich weiß nicht, wie …«
Halva wollte gerade antworten, als Sirenen sich dem Haus
näherten. Brannte es irgendwo? Dann aber kamen die Autos
mit dem gellenden Martinshorn vor ihrer Haustür zum Stehen.
Gleich darauf klingelte es an der Wohnungstür.
»Was ist denn da los? Mudi? Meine Güte, hoffentlich ist
nichts passiert …« Raya sprang auf und lief die Treppe hinunter.
Halva schlüpfte in ihre Jeans und folgte ihr, so schnell
sie konnte. Schon nach den wenigen Stunden der Gefangenschaft
tat es ihr so gut, das Zimmer verlassen zu können!
Als sie unten ankam, standen schon drei Polizisten in der
offenen Wohnungstür. Ihre Augen suchten schnell und routiniert
das Innere der Wohnung ab.
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte Raya gerade. Ihre Stimme
zitterte. »Ist etwas passiert? Ein Verkehrsunfall etwa?«
»Es ist Anzeige gegen Muhammad Mansouri und Cyrus
Mansouri erstattet worden. Sind beide hier wohnhaft?«
Einer der Polizisten zückte seinen Notizblock. Das war ja
wie im Film, dachte Halva, der alle Kraft schwand. Sie setzte
sich auf die unterste Treppenstufe.
»Eine … Anzeige? Weshalb denn das?«, stammelte Raya.
»Dürfen wir?«, forderte einer der Männer.
Raya nickte schwach und ging einen Schritt zur Seite. Der
erste Polizist betrat die Wohnung.
Halva sah die Angst im Blick ihrer Mutter. Auch das war
ein Erbe aus dem Iran: eine tief sitzende Furcht vor der Willkür
des Staates, der man so vollkommen machtlos ausgesetzt
war. Wer aus einem solchen Land kam, stand Männern
in Uniform nie wieder entspannt gegenüber. Raya vermied
es sogar, einen Polizisten nach dem Weg zu fragen.
Die Beamten standen nun im Wohnungsflur und einer
von ihnen schnarrte: »Eine Anzeige wegen schwerer Sachbeschädigung,
schwerer Körperverletzung und versuchtem
Totschlag.«
Halva hielt entsetzt den Atem an. Schwere Sachbeschädigung,
schwere Körperverletzung und versuchter Totschlag –
war es das, was Baba und Mudi diese Nacht angestellt hatten?
Aber Kai ging es doch gut! Der Gedanke traf sie wie ein
Schlag. Was war mit seinem Vater?
»Versuchtem …?« Raya konnte derweil nicht weitersprechen.
Sie war totenblass geworden und suchte an der Wand
Halt. Keiner der Polizisten half ihr, sodass Halva zu ihr lief,
um sie zu stützen.
Im selben Augenblick wurde die Haustür aufgesperrt und
Halva drehte sich um. »Da kommt mein Bruder ja«, sagte sie
mit zitternder Stimme, als Mudi im Türrahmen auftauchte.
Sie empfand keinen Triumph, sondern nur tiefe Traurigkeit.
Mudi saß in sich zusammengesunken am Küchentisch.
»Wo ist Ihr Vater, Herr Mansouri?«, fragte einer der Polizisten.
»In unserem Café in der Karlstraße«, sagte Mudi kaum
hörbar. Der Polizist machte seinen Kollegen ein Zeichen. Sie
tippten sich zum
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