Halva, meine Sueße
oder Araber.«
»Und stört dich das?« Eine dieser Nationalitäten war es
also nicht.
Mudi überlegte. »Nein. Anderssein erregt Unverständnis
und Unverständnis erzeugt Vorurteile. Mir ist egal, was
die Leute denken, wo ich herkomme. Wenn es mich stören
würde, dann wäre ich ja nicht besser als sie. Niemand ist
mehr wert als der andere, ob Türke, Albaner, Araber oder
eben …«
Seine Stimme verlor sich und Kai half ihm weiter: »Wo
kommst du her?«
»Aus Augsburg natürlich.« Mudi hielt seine Papiere so,
dass sein Abiturzeugnis zuoberst lag. Kai sah, dass Mudi
in diesem Jahr am traditionelleren Anna Gymnasium sein
Abitur gemacht hatte. Dann blieb sein Blick an Mudis Notendurchschnitt
hängen, der mit glatten Einsen in fast allen
Fächern viel besser als sein eigener war. Trotzdem kamen
ihm die Worte »Streber« oder »Angeber« nicht in den Sinn,
denn Mudi strahlte eine Ruhe und Gelassenheit aus, die Kai
irgendwie imponierte.
»Nein, natürlich. Ich meine … ursprünglich.«
Mudis Augen glitzerten. »Was denkst du? Kannst du es
erraten?«
Kai musterte ihn. Was sollte das Ratespiel? Aber etwas an
Mudis Gesichtsausdruck, seiner feinen olivfarbenen Haut
und den hellen grünen Augen unter den für einen Mann sehr
langen Wimpern faszinierte ihn. Es ließ ihn an Rudyard Kiplings
»Kim« denken. Vor einigen Jahren hatte er angefangen,
sich mehr für Geschichte zu interessieren, und hatte die fantastischen
Welten von »Harry Potter« und »Herr der Ringe«
hinter sich gelassen. Seitdem hing auch eine große Weltkarte
in seinem Zimmer. Der Gegensatz zwischen dem zersplitterten
und so
klein
aussehenden Europa und der immensen, lockenden
Weite Zentralasiens hatte ihn gefesselt. Eines Tages
wollte er mit der
Transsib
fahren und sein eigenes Roadmovie
erleben, entschied er damals mit zwölf.
Eines Tages.
Mudi erinnerte ihn an die Seidenstraße und an Tausendundeine
Nacht und so riet Kai ins Blaue hinein: »Ich weiß es
nicht. Aus dem Irak vielleicht? Oder Afghanistan?«
Mudi lächelte plötzlich, und Kai merkte jetzt erst, dass er
angespannt gewesen war.
»Fast. Gut geraten. Ich komme aus dem Iran«, sagte Mudi.
»Du bist Perser?«, fragte Kai.
»Hm … aber ich habe es lieber, wenn man Iraner sagt. Iran
ist das modernere Wort für unser Land.«
»Sorry. Das wusste ich nicht. Ich glaube, ich habe noch
nie jemanden aus dem Iran kennengelernt. Ist das nicht ganz
schön … ganz schön …«
»Ganz schön – was?«, fragte Mudi beinahe lauernd. Er
machte es Kai wirklich nicht leicht.
»Ganz schön
schwierig
dort?«, beendete Kai seinen Satz. Er hörte selbst, wie schwach das klang. Iran: Was wusste er über
das Land? Er dachte rasch nach, denn Mudi sah ihn noch
immer prüfend an. Schließlich hatte er im
Economist
und in
der
ZEIT,
die sein Vater abonnierte hatte, einiges über das
uralte Land gelesen. Kai schluckte.
Schwierig.
Wie blöd das
klang, wenn es um Atombomben, Verbot der Redefreiheit,
Folter und abgeschlachtete Demonstranten ging. Er wollte
im Erdboden versinken, so doof fühlte er sich.
Mudi atmete langsam und hörbar durch die Nase aus.
Als er sprach, klang seine Stimme geduldig, als hätte er es
statt mit Kai mit einem Kind zu tun. »Genau.
Schwierig.
So
ist das dort. Aber Gott sei Dank konnte meine Familie das
Land verlassen.«
»Aha … Kann man denn einfach so ausreisen?«
»Nein. Meine Eltern hatten Verbindungen, sagen sie
immer. Sonst kannst du das so gut wie vergessen. Aber wir
hatten es hier am Anfang verdammt schwer. Bis meine Eltern
Deutsch gelernt hatten, eine Wohnung für uns frei
wurde und sie ein Darlehen für ihr Café bekommen haben,
lebten wir in einem Auffanglager. Hunderte von Betten, die
nur durch Vorhänge getrennt waren. Ich bin echt stolz auf
meine Eltern und auf das, was sie für uns auf sich genommen
haben.«
»Für uns?«
»Ich habe noch eine Schwester. Aber hauptsächlich ging
es meinen Eltern bei der Ausreise wohl um mich, ohne machohaft
klingen zu wollen. Mein Großvater war unter dem
Schah Reza Pahlewi einer der höchsten Richter im Land.
Deshalb will ich auch Jura studieren und werden wie er. Ich
will
wirklich
Recht sprechen, statt mich mit der
Scharia
abzugeben. Und darum werde ich in seine Fußstapfen treten,
das weiß ich. Dann haben sich wenigstens alle ihre Mühen
gelohnt. Im Iran hätte ich keine Chance gehabt. Nenn mir
ein Problem, irgendeines, wir haben es dort bestimmt! Arbeitslosigkeit,
Luftverschmutzung, Krankheiten, Seuchen,
Naturkatastrophen,
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