Halva, meine Sueße
Drogenmissbrauch, Prostitution, eine
der höchsten Selbstmordraten der Welt unter Jugendlichen,
galoppierende Inflation und, und, und.«
Kai nickte stumm, denn sowohl Mudis Ernsthaftigkeit
als auch die Selbstverständlichkeit, mit der er seinen Weg
voraussah, beeindruckten ihn. Hier hatte jemand ein Ziel
und wollte später wichtige Entscheidungen treffen. Mehr, als
nur nächsten Samstag ins Kino zu gehen und sich zu fragen,
welchen Film man sehen wollte. Mudi war nicht nur ernst,
es
war
ihm ernst. Das war der große Unterschied zwischen
ihm und anderen.
Kai sah auf seine Uhr. Es war beinahe Mittag geworden.
Mist, Selina war wohl schon lange weg. Aber er hätte Mudi
ja auch nicht einfach stehen lassen können. Und er hätte es
auch gar nicht gewollt, gestand er sich ein.
»Was machst du jetzt, Mudi? Ich gehe in die Mensa. Willst
du mitkommen?«
Mudi schüttelte den Kopf. »Ich würde gerne, aber meine
Schwester wartet zu Hause mit dem Essen auf mich.«
»Deine Schwester wartet mit dem Essen auf dich?«, wiederholte
Kai erstaunt. So was hatte er als Antwort nicht erwartet.
»Ja. Unsere Eltern arbeiten beide, und da hat sie gestern
Abend schon groß gekocht, damit wir heute alle zusammen
ein Fest feiern können – jetzt, wo ich ganz offiziell Jurastudent bin. Das kann ich auf keinen Fall verpassen. Sie hat
sich solche Mühe gegeben. Außerdem kommen meine Eltern
ausnahmsweise zum Mittagessen nach Hause. Das verstehst
du doch sicher, oder?«
»Klar«, sagte Kai, aber er war sich nicht sicher, ob er wirklich
verstand.
»Komm doch mit«, sagte Mudi plötzlich.
»Wie meinst du das?«
»Na, wo vier satt werden, hat auch noch ein Fünfter Platz.
Wenn nicht noch mehr. Wenn Iranerinnen kochen, dann
kann man damit eine Heerschar eine Woche lang verköstigen.
Außerdem gilt bei ihnen
Nein danke
nicht als Antwort.«
Er grinste. »Gleichzeitig ist nichts beleidigender für eine iranische
Familie, als wenn der Gast alles, was ihm gereicht
wird, auch aufessen könnte. Und Halva kocht gut, sehr gut
sogar.«
»Halva?«
»Das ist meine Schwester.«
Kai zögerte. Er hatte keine Vorstellung von iranischem
Essen. War das so ähnlich wie Döner Kebab? Den aß er ja
morgens um vier, wenn sie alle am Welserplatz aus der
Wunderbar
kamen, sehr gerne. Aber was, wenn ihm das Essen
nicht schmeckte oder er einen furchtbaren Patzer beging,
weil er irgendeine Etikette nicht kannte? Bestimmt würde er
noch jemandem auf den Schlips treten, wo er doch so wenig
über den Iran wusste. Es würde für ihn ein durch und durch
unentspannter Nachmittag werden, so viel war klar – und
das konnte er jetzt gar nicht gebrauchen. Deshalb sagte er:
»Danke, nett von dir, aber lieber ein anderes Mal.«
»Klar. Gerne. Und danke noch mal, Kai. Das erzähle ich daheim, wie du die Tante da gefilmt hast. Das war echt ritterlich
von dir.«
Kai zuckte ein wenig peinlich berührt mit den Schultern
und grinste verlegen.
Kai Artus.
»Ach, komm! Das hätte doch
jeder getan«, sagte er schnell.
»Glaubst du?«, fragte Mudi nach einem kurzen Schweigen.
Kai war leicht verwirrt.
»Hm. Na ja, vielleicht auch nicht.«
»Lass es dir in der Mensa schmecken. Bis morgen dann,
in der ersten Vorlesung Strafrecht. Der Professor, den wir
haben, soll sehr gut sein. Jetzt muss ich aber los. Sonst verpasse
ich die Straßenbahn und komme zu spät.«
»Bis morgen.«
Mudi schüttelte zum Abschied Kais Hand, und Kai begann,
sich an diese Förmlichkeit zu gewöhnen. Er sah Mudi
nach, als dieser sich sehr gerade und bestimmt seinen Weg
durch die Menge suchte, um zur Straßenbahnhaltestelle vor
der Uni zu gehen. Kai hatte noch keine Ahnung, welchen
Professor er in welchem Fach hatte, fiel ihm dann ein.
In der Mensa entdeckte Kai von Weitem dann doch noch
einige Bekannte, die ihm zuwinkten. Er setzte sich zu ihnen
an den Tisch, konnte ihrem Gespräch aber nicht recht folgen
und sah stattdessen aus den großen Fenstern nach draußen.
Das weiße Licht blendete ihn, auch wenn der am Morgen
noch klare Himmel nun mit Wolken überzogen war. Sein
Essen bestand aus einem nicht näher identifizierbaren Bioauflauf,
einem Salat, dessen Lebensgeister in Soße ertränkt
worden waren, einem Apfel und einem Glas Mineralwasser.
Selina war nirgends zu sehen. Er hörte nur mit halbem Ohr, worüber seine Kumpel sich unterhielten: die kurzen Röcke
der Mädchen, den besten Repetitor vor dem Examen – typisch,
dabei hatten sie noch nicht einmal die erste Vorlesung
besucht! – und ein paar
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