Halva, meine Sueße
wiederkam. Sie alle legten
sich ein Zuckerstück auf die Zunge und tranken den Tee
darüber hinweg, sodass sein herber Geschmack sich mit der
Süße des Zuckers mischte. »Ein Café«, wiederholte Mamii.
»Meine Tochter bedient andere Leute.« Dann fragte sie lauernd:
»Nehmt ihr Miryam mit?«
»Nein. Cyrus sagt, sie sei zu jung.«
»Sie ist doch kaum älter als Halva, oder? Gerade mal vierzehn
oder fünfzehn Jahre?«
Halva nickte. Miryam war zwar als Halbschwester ihres
Vaters streng genommen ihre Tante, aber sie war nur sechs
Jahre älter als sie selbst. Miryam und sie waren fast wie
Schwestern. Aber wenn sie nun nach Deutschland zogen –
Mudi und sie hatten das Land erst vor Kurzem überhaupt
auf der Landkarte entdeckt –, würde sie Miryam dann je
wiedersehen?
Mamii griff zu den Datteln und bot Mudi und Halva
davon an, wobei sie ihren besorgten Blick eine Weile auf
Halva ruhen ließ.
Beide Kinder nahmen wohlerzogen je eine Frucht, und
Halva saugte bedächtig an dem süßen Fleisch, während Mudi
sich sofort die ganze Dattel in den Mund stopfte. Vom Saft
bekam er Schluckauf und Raya sah ihn strafend an. Halva
beobachtete ihren Bruder mit vergnügt funkelnden Augen.
Mudi bekam den lustigsten Schluckauf der Welt, der über
drei Oktaven ging.
»Und auf Halva passen wir natürlich gut auf«, versicherte Raya, der der Blick ihrer Mutter in Halvas Richtung nicht
entgangen war.
Mamii hob den Kopf und musterte ihre Tochter scharf. »Cyrus hat doch nicht schon etwas arrangiert …? Oder weshalb
hast du Bijans vier Söhne erwähnt?«
»Lass, Mutter.« Raya starrte schuldbewusst auf ihren blanken
Ringfinger.
»Allah, steh uns bei«, flüsterte Mamii. »Und da sagst du,
Freiheit sei mit nichts aufzuwiegen? Aber sie hat ihren Preis!
Einen extrem hohen Preis, wenn du mich fragst.«
»Bijan hat mehr getan, als uns die Ausreise zu erleichtern.
Er hat Cyrus das Leben gerettet, als er ihn aus dem Gefängnis
geholt hat. Es hätte ihm sonst leicht ebenso ergehen
können wie Vater damals«, flüsterte Raya.
Mamii seufzte. »Was musste Cyrus auch in seinem Büro
Pamphlete kopieren?«
Raya hob hilflos die Schultern. »Das war er doch gar
nicht. Er hatte jemandem seinen Schlüssel geliehen. Einem
Freund …«
»Schöner Freund!«
»Aber das ist ja jetzt auch ganz egal. Es kann jederzeit
wieder passieren, aber das nächste Mal kommt er nicht mehr
lebendig heraus. Jetzt steht er auf ihrer Liste.« Raya strich
Halva über das Haar. »Was kann ich denn schon tun?«, fragte
sie und der leise Zweifel in ihrer Stimme war nicht zu überhören.
»Das war eben Bijans Bedingung. Sonst hätten wir
nie ausreisen können. Bis zu ihrem achtzehnten Geburtstag
ist das doch bestimmt alles wieder vergessen.«
Bis zu
wessen
achtzehntem Geburtstag?, wunderte sich
Halva. Miryams?
»Ja, was kannst du denn schon tun«, sagte Mamii. Ihr
durchdringender Blick legte sich auf ihre Enkelin. »Nimm
zwei Schokoladen, Halva.«
»Mamii, weshalb hast du nicht nur einen Teppich hier
liegen, sondern gleich vier?«, fragte Halva.
Die Großmutter lächelte. »Die Teppiche sind meine Sparbüchse
und meine Versicherung. Sollte es mal übel zugehen.«
Raya begann zu lachen. Sie bog sich nach vorn und lachte,
bis ihr die Tränen übers Gesicht liefen. Glücklich sah sie
dabei aber nicht aus und Halva legte ihrer Mutter besorgt die
Hand auf die Schulter. Als Raya sich etwas beruhigt hatte,
wischte sie sich die Augen und keuchte:
»Sollte
es mal übel
zugehen!
Sollte!
Was muss noch geschehen, Mutter, damit du
dir eingestehst, dass wir in der Hölle auf Erden leben? Soll es
Atombomben regnen?«
Mamii fuhr auf. »Es gibt noch immer Überreste des alten
Teheran. Der bunten, lebensfrohen und vornehmen Stadt,
in der ich aufgewachsen bin! Schließlich sind es die Menschen,
die ein Land ausmachen. Erst gestern nahm mich ein
vollkommen Fremder in seinem Wagen mit, als ich den weiten
Weg von der Bäckerei zurück kaum mehr geschafft habe.
Wir haben uns vorzüglich unterhalten und viel gelacht.«
»Und als er dir aus dem Wagen half, ließ er noch ganz
nebenbei deine Geldbörse verschwinden.«
»Woher weißt du das?«, fragte Mamii empört, aber auch
beschämt.
»Das passiert hier doch jeden Tag. Wir werden zu einem
Volk von Kleinverbrechern aller Art. Denn die Schwerverbrecher
sind alle mit Regieren beschäftigt. Das sind die Menschen,
die dieses Land ausmachen.«
Einen Augenblick lang herrschte eine ungemütliche Stille
in der kleinen Bibliothek. Halva verlagerte
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