Halva, meine Sueße
Schaum auf einem Blech und
schob es in den sonst leeren Kühlschrank. »Gott sei Dank ist
der Strom wieder da. Nun müssen wir eine Dreiviertelstunde
warten. Hast du noch so viel Zeit?«
Beim Abschied auf der dunkelroten Schwelle wickelte Mamii
Halva ihren
Hijab
um den Kopf und steckte das Tuch sorgfältig
mit einigen Nadeln fest. Dann reichte sie ihr eine verbeulte
Blechdose. Halva öffnete sie: Darin lag, in Rauten geschnitten,
das weiße Konfekt. Auf jedem Stück Halva klebte
eine kleine runde Scheibe Lakritz und ein betörender Duft
stieg Halva in die Nase. Sie schloss die Augen und sog ihn
tief in sich ein. Dann hielt sie das Konfekt gegen das spärliche
Licht des Winternachmittags. Durch die Halva zogen
sich goldene Honigadern und über den Mandelsplittern
lockte dunkel das Lakritz.
»Iss«, sagte Mamii und Halva gehorchte. Es war schaumig
und fest, bitter und süß zugleich. Augenblicklich explodierte
ein Feuerwerk von Genuss an ihrem Gaumen.
Mamiis Augen glänzten feucht. »Immer, wenn du Halva
isst, dann sollst du an mich denken. An mich und daran, wer
du bist und wo du herkommst. Du darfst das nie vergessen,
vor allen Dingen, weil du von morgen an überall eine Fremde
sein wirst. Wenn du Halva isst, dann denk an Teheran.«
Mamii umarmte sie und Halvas Nase wurde in den Mantel
aus schwarzer Seide gedrückt. Die weite Allee im Norden
Teherans, an der das Haus ihrer Großmutter lag, war so gut
wie menschenleer. Die kahlen Bäume gaben den Blick auf
den hässlichen Wildwuchs der Häuser frei. Viele der alten
Villen waren verfallen oder abgerissen worden und an ihrer
Stelle schossen Hoch- und mehrstöckige Mietshäuser wie
Pilze aus dem Boden. Eine Schmutzschicht überzog die gesamte
Stadt, die auch die dicken, feuchten Schneeflocken,
die Mudis und Halvas Schuhsohlen durchweichten, nicht
vergessen machen konnten. Das Wasser der
Joorab,
der kleinen Straßenkanäle, war gefroren, und an der Straßenecke gegenüber
packte ein Händler einen Käfig mit bunten Kanarienvögeln
ein. Gegen ein paar Münzen ließ er sonst die Tiere
mit ihrem Schnabel ein
Faal,
einen Liebesvers, aus einem
Haufen gefalteter Papiere ziehen. Doch heute wurden seine
Dienste offensichtlich nicht mehr benötigt.
Am Ende der Straße bog ein Jeep ein.
Der Mann packte seine Vögel schneller zusammen und
nahm dann die Beine in die Hand. Haustiere waren verboten,
obwohl in vielen Geschäften Haustierfutter angeboten
wurde.
Sowohl Raya als auch Mamii prüften instinktiv den Sitz
ihres Mantels und des Kopftuchs, denn in dem Wagen saßen
möglicherweise einige der gefürchteten Sittenwächter der
Polizei.
Halva saugte an dem Konfekt und wieder rann geschmolzenes
Gold durch ihre Adern. Nein, wenn sie in Zukunft
Halva aß, wollte sie nicht an Teheran denken und an alles,
was sie heute gehört hatte. Sondern nur an Mamii.
… ebenfalls ein Wintermorgen
Kai rieb sich kurz die Hände und blies einmal in die Luft,
als er in der Dämmerung vor das Haus seines Vaters trat.
Sein Atem wurde zu Wolken, und er sah dem weißen Hauch
kurz nach, ehe er vorsichtig, um nicht auszurutschen, die
Stufen hinunterging. Wie konnte es Ende Oktober schon
so kalt sein? Irgendwie hatte das Jahr den Herbst vergessen.
Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, stiegen krächzend
einige Raben von den kahlen hohen Bäumen im Garten auf.
Ihr schwarzes Gefieder stand wie Schriftzeichen im frühen
Winterhimmel.
Sein Fahrlehrer Herr Steinlein wartete in seinem Opel
Astra mit laufendem Motor vor dem hohen Gittertor. Die
Scheinwerfer rissen Löcher in den Morgennebel, als Kai die
Fahrertür aufzog, sich setzte und anschnallte. Er versuchte zu
ignorieren, wie schnell und hart sein Herz schlug. Alles würde
gut gehen. Kai grüßte seinen Fahrlehrer, was dieser mit einem
Nicken erwiderte und sich knarzend in seinem Sitz zurechtrückte. Kai zwang sich, keine Miene zu verziehen. Er wusste
genau, dass nicht das Leder geknarzt haben konnte, denn die
Sitze des Opel Astras waren mit widerstandsfähigem Stoff
bezogen. Herr Steinlein furzte leider die ganze Zeit, denn
er führte einen aussichtslosen Kampf mit seiner so gut wie
ausschließlich sitzenden Tätigkeit. Aber konnte er sich nicht
wenigstens am Tag von Kais Fahrprüfung zusammenreißen?
Was, wenn der Prüfer nachher auf der Rückbank einfach
ohnmächtig wurde? Kein Wunder, dass es in der Stadt hieß:
Es geht doch kein Schweinlein zum Steinlein!, dachte Kai
und presste seinen Kiefer zusammen. Wenn ihm nicht so
mulmig zumute
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