Hamburg Horror Noir - Halloween Special
hielt.
Gegen zehn Uhr am Abend war das Haus voll. Mit voll meine ich wirklich voll! Geister und Feen, Serienkiller und Frankensteins Monster, Hexen, Vampire, Sportler, Berühmtheiten, sie alle waren über das Anwesen verteilt, eine Armada skurriler Figuren. Sie saßen auf der Treppe im Flur und im Garten, einige standen sogar vor dem Haus. Nur das Schlafzimmer der Eltern blieb unbegehbar. Sie hatten es vor ihrem Abschied verschlossen – ich weiß das, weil ich probierte, die Tür zu öffnen. Nur für den Fall, dachte ich, und wurde enttäuscht.
Die Musik war an und der Bass dröhnte durch das Haus, brachte den Boden zum Beben. Einige tanzten schon. Noch lauter sogar waren einzelne Gespräche oder das Grölen der Jüngeren, wenn sie sich gegenseitig erschreckten oder sich anfeuerten, ein volles Glas Whiskey auszutrinken. Ich weiß nicht mehr, wie es dazu gekommen war, aber ich saß schließlich zwischen Madlen und Martins Schwester Sarah auf dem Sofa vor dem Fernseher, vor den später die Leinwand gelassen wurde, und beide Frauen hatten jeweils eine Hand auf meinen Oberschenkeln.
Vielleicht war es das Blut, das mir aus dem Kopf und in die Hose gerutscht war oder Sarahs tiefer Ausschnitt ihres Engelskostüms. Ich weiß auch das nicht. Als jemand direkt vor mir stand, erkannte ich ihn zunächst nicht, so abgelenkt war ich. Ganz in schwarz gekleidet – aber hey, das waren viele an diesem Abend, ob Kleid oder Hose – erst als ich aufblickte, erkannte ich meine Schwester. Larissa hatte sich für ihre Rolle bleich geschminkt, aber unter ihrem Make-up lag das echte Entsetzen.
„War er die ganze Zeit hier?“, fragte sie Madlen, doch Sarah antwortete dafür: „Wo soll er denn sonst gewesen sein? Und wo ist Martin?“
Larissa starrte einen Moment unentschlossen auf die beiden Hände, die meine Oberschenkel streichelten, dann verschränkte sie die Arme vor der Brust. Sie sprach in einem Ton, den ich noch nie vernommen hatte, zumindest nicht aus ihrem Mund.
„Nimm die Maske ab, Jakob!“, befahl sie.
Es muss skurril ausgesehen haben, aber andererseits, was war nicht skurril an diesem Abend? Für meine Schwester brach ich meinen Eid und hob die Maske über den Kopf. Eigentlich war ich froh darüber. Endlich kam Luft an mein Gesicht und durch die offene Veranda-Tür wehte ein leichter Wind herein. Madlen und Sarah nahmen ihre Hände von mir, standen auf und verschwanden im Getümmel der Feierenden. Larissas Ausdruck war erleichtert. Sie blickte mich an, als ob sie mich noch nie gesehen hätte oder einen lange verloren geglaubten Menschen endlich entdeckt hatte. Dann stürzte sie nach vorne, fiel mir um den Hals und setzte sich auf meinen Schoß, als sei sie ein Kind, das beschützt werden wollte.
„Ich bin so froh, dich zu sehen, Jakob“, flüsterte sie. Ich hatte Mühe, alles zu verstehen, obwohl ihre Lippen direkt an meinem rechten Ohr waren.
„Das merke ich. Was ist denn los?“ Wie der Bruder, der ich war, streichelte ich über ihren Rücken, um sie weiter zu beruhigen.
Madlen und Sarah hatten sich etwas zu trinken besorgt und waren nun zurückgekehrt. Sie reichten uns je ein Bier und wirkten wenig irritiert, dass meine Schwester sich an mich klammerte, und setzten sich zu uns.
„Alles klar?“, fragte Madlen und streichelte ihr ebenfalls über den Rücken.
„Ich muss hier raus“, sagte meine Schwester, stand von mir auf und nahm meine Hand. Sie brauchte nichts weiter zu sagen. Wir gingen in den Garten und suchten uns eine Stelle unter Bäumen, etwas abseits, setzten uns auf zwei Steine. Dort verharrten wir ein paar Sekunden in Stille, bis wir mit unseren Flaschen anstießen.
„Sagst du es mir jetzt?“, fragte ich. Aber ich meinte es nur zur Hälfte ernst. An diesem Abend war ich nie ganz bei ihr gewesen. In meinem Kopf flackerte stets der Gedanke auf, ich würde heute mit Madlen und Sarah im Schlafzimmer verschwinden. Welcher Mann wäre dadurch nicht abgelenkt gewesen? Doch es hätte mir zu denken geben müssen. Ich hätte mehr unternehmen müssen. Irgendwas. So wurde das, was Larissa mir dort draußen im Dunkeln des Gartens erzählte, lediglich ein unheimliches Vorspiel zu dem, was ich mir vom Abend erwartete. Eine Gruselgeschichte, die zu keinem anderen Tag im Jahr gepasst hätte.
Sie sagte: „Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Wenn ich das Ende erzähle, hältst du mich bestimmt für verrückt.“
„Dann fange am besten beim Anfang an“, sagte ich und legte einen Arm um sie. Es war etwas
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