Hana
und mir wird bewusst, dass ich nicht mal genau weiß, was Flirten eigentlich ist. Ich kenne es nur aus Schulbüchern; ich weiß nur, dass es etwas Schlechtes ist. Kann man flirten, ohne zu wissen, dass man flirtet? Flirtet er doch mit mir? Mein linkes Auge zuckt wie besessen.
»Keine Panik«, sagt er und hebt beide Hände in einer Geste, die zu besagen scheint: Nicht böse sein. »War nur Spaß.« Er dreht sich nur leicht nach links, ohne mich aus den Augen zu lassen. Der Mond beleuchtet deutlich seine dreizackige Narbe: ein perfektes weißes Dreieck, eine Narbe, die Ordnung und Regelmäßigkeit ausstrahlt. »Ich bin immun, schon vergessen? Ich kann dir nichts anhaben.«
Er sagt es ruhig, gelassen, und ich glaube ihm. Und trotzdem stellt mein Herz sein hektisches Flattern in meiner Brust nicht ein, schraubt sich höher und höher, bis ich sicher bin, dass es gleich mit mir abhebt. So fühle ich mich immer, wenn ich ganz oben in Munjoy Hill ankomme und die Congress Street hinabblicke, auf die ganze Stadt, die unter mir liegt, auf die Straßen, die in Grün- und Grautönen schimmern – aus der Entfernung sowohl schön als auch fremd –, kurz bevor ich die Arme ausbreite und es losgeht, ich den Berg hinunterstolpere, -springe und -renne, während mir der Wind ins Gesicht peitscht und ich nicht mal versuche mich zu bewegen, sondern mich einfach von der Schwerkraft ziehen lasse.
Atemlos; aufgeregt; in Erwartung des Falls.
Plötzlich merke ich, wie leise es ist. Die Band hat aufgehört zu spielen und die Menge ist auch verstummt. Das einzige Geräusch ist der Wind, der über das Gras wispert. Von unserem Standort fünfzehn Meter jenseits der Hügelkuppe aus sind die Scheune und die Party nicht zu sehen. Ich stelle mir kurz vor, wir wären die einzigen Menschen draußen in der Dunkelheit – die einzigen wachen und lebenden Menschen in der Stadt, auf der ganzen Welt.
Dann beginnen sich zarte Musikstränge in die Luft zu winden, sanft, seufzend, zunächst so leise, dass ich die Klänge für den Wind halte. Diese Musik ist vollkommen anders als die vorhin – zart und zerbrechlich, als wäre jede Note gesponnenes Glas oder ein seidener Faden, der sich in die Nachtluft hinauf- und wieder zurückschlängelt. Ich bin erneut fasziniert davon, wie wunderschön sie ist, so etwas habe ich noch nie gehört und wie aus dem Nichts überwältigt mich das Verlangen, zu lachen und zu weinen zugleich.
»Das ist mein Lieblingslied.« Eine Wolke schiebt sich vor den Mond und hüllt Alex’ Gesicht in Schatten. Er sieht mich immer noch an und ich wüsste gerne, was er denkt. »Hast du schon mal getanzt?«
»Nein«, sage ich etwas zu heftig.
Er lacht leise. »Keine Angst, ich verrat’s auch niemandem.«
Bilder von meiner Mutter: wie weich ihre Hände waren, wenn sie mich über die ausgedehnten polierten Holzböden in unserem Haus wirbelte wie beim Eiskunstlauf; der Flötenton ihrer Stimme, wenn sie lachend die Lieder mitsang, die aus den Lautsprechern erklangen. »Meine Mutter hat getanzt«, sage ich. Die Worte rutschen mir heraus und ich bereue sie praktisch sofort.
Aber Alex fragt nicht nach und lacht auch nicht. Er sieht mich weiterhin unverwandt an. Einen Augenblick scheint er etwas sagen zu wollen. Aber dann streckt er nur die Hand über den Zwischenraum, über die Dunkelheit hinweg nach mir aus.
»Hast du Lust?«, fragt er. Seine Stimme ist über dem Wind fast nicht zu hören – so leise, dass es kaum ein Flüstern ist.
»Lust wozu?« Mein Herz dröhnt, rauscht in meinen Ohren, und obwohl immer noch mehrere Zentimeter zwischen unseren Händen sind, ist da eine knisternde, summende Energie, die uns miteinander verbindet. Nach der Hitze zu urteilen, die meinen Körper durchströmt, könnte man meinen, wir wären eng aneinandergepresst, Handfläche an Handfläche, Gesicht an Gesicht.
»Tanzen«, sagt er im selben Augenblick, als er die letzten paar Zentimeter überbrückt, meine Hand ergreift und mich an sich zieht, und in dieser Sekunde schraubt sich die Melodie in die Höhe und alles wird eins, seine Hand mit meiner und die anschwellende, immer lauter werdende Musik.
Wir tanzen.
Die meisten Dinge, sogar die größten Bewegungen auf der Erde, beginnen mit etwas Kleinem. Ein Erdbeben, das eine Stadt zerstört, beginnt vielleicht mit einer leichten Erschütterung, einem Zittern, kaum wahrnehmbar. Musik beginnt mit einer Schwingung. Die Flut, die vor zwanzig Jahren nach fast zwei Monaten strömendem Regen Portland
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