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Handbuch für anständige Mädchen

Handbuch für anständige Mädchen

Titel: Handbuch für anständige Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elaine Di Rollo
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fortgegangen.«
    Tante Statham grub ihre Finger so fest in Mr Blakes Arm, dass er beinahe aufgeschrien hätte. Die dicke Schicht Gesichtspuder auf ihren Wangen war durch die feuchte Hitze klebrig geworden und glänzte im Licht der Lampen wie Kalk auf den Wangen einer Leiche. »Männer wie Sie kommen ständig hierher«, flüsterte sie. »Talbot bringt sie mit. Und Lilian ist die Schöne gewesen, wissen Sie? Aber Alice ist auch etwas Besonderes – selbst wenn das nicht jeder sieht. Geben Sie ihr keinen Grund zu bereuen, Ihnen jemals begegnet zu sein.«
     
    »Miss Talbot, wie entzückend, Sie wiederzusehen«, sagte Dr. Cattermole und trat lächelnd vor. Alice zwang sich, das Lächeln zu erwidern.
    Ihr Vater war Dr. Cattermole auf die gleiche Weise begegnet wie so vielen seiner Freunde und Bekannten, bei einem Treffen der Gesellschaft zur Verbreitung Nützlichen und Interessanten Wissens. Dr. Cattermoles Interessen waren vielseitig: Ihn faszinierten Statistiken bezüglich Lasterhaftigkeit und Unmoral in der Hauptstadt, und er war stolz behaupten zu können, selbst ein paar nützliche zusammengestellt zu haben. Neue wissenschaftliche Ideen, die das Verhalten erklärten, hatten ihn in ihren Bann gezogen. Außerdem war er ein begeisterter Befürworter von operativen Eingriffen als Heilmittel gegen gesellschaftliche und psychische Übel, sammelte alle möglichen medizinischen Instrumente zu Diagnose- und Heilzwecken und besaß unzählige Geburtszangen und Spekula, eine mannigfaltige Sammlung phrenologischer Gehirnabdrücke und ein umfassendes Archiv an Fotografien von erkrankten Körperteilen, sezierten Leichnamen, Porträts von Irren und Verbrechern sowie von laufenden Operationen, wie auch Fotografien mikroskopischer Ansichten von Schnitten durch menschliche Eingeweide. Es war diese Verwendung der beiden wunderbaren optischen Erfindungen – des Mikroskops und der Kamera –, die ganz besonders Mr Talbots Aufmerksamkeit erregt hatte, und schon nach kurzer Zeit war Alices Vater klar gewesen, dass er in Dr. Cattermole einen ebenbürtigen Eklektiker gefunden hatte, einen weiteren engagierten Sammler von Artefakten des Wissens und Fortschritts. Bald war Dr. Cattermole ein regelmäßiger Besucher im Talbot-Haushalt, und die beiden Männer genossen gemeinsame Abende »wissenschaftlicher Kurzweil«. Bei diesen Anlässen wurde gewöhnlich mit Mr Talbots neuesten Errungenschaften gespielt, was in aller Ausgelassenheit ablief und häufig bis in die frühen Morgenstunden dauerte.
    Ihre Beziehung hatte sich so weit entwickelt, dass Dr. Cattermole herbeigerufen worden war, um bei der Geburt von Lilians Baby als Arzt zu fungieren. Er rieb sich die Hände, als er seine Instrumente ausbreitete, und versicherte Alice, seiner entsetzten Gehilfin, dass er schon unzählige vaterlose Säuglinge geholt habe, da das Magdalene Asylum, wo so viel seiner karitativen Arbeit stattfinde, nicht einmal zweihundert Meter von der Leichenhalle entfernt sei, in der er einen beträchtlichen Teil eines jeden Tages zubringe.
    Selbstverständlich hatte Dr. Cattermole nicht die zahlreichen Fälle von Kindbettfieber bei seinen Patientinnen zur Sprache gebracht. Ebensowenig hatte er die hohe Sterblichkeitsrate bei den Müttern und Säuglingen erwähnt, die er behandelte, wenn man ihn von den Seziertischen rief. Über keines von beidem hatte er auch nur das Geringste verlauten lassen, weil ihm diese Umstände nicht aufgefallen waren. Die Möglichkeit, dass er, Thomas Cattermole, der Verbreiter solchen Unglücks sein könnte, weil er sich fast nie die Zeit zum Händewaschen nahm, wäre ihm noch nicht einmal in den Sinn gekommen.
    Jetzt griff Dr. Cattermole nach Alices Fingern und hob sie an seine Lippen. Seine Hände waren kalt und die Lippen unangenehm feucht. Kuchenkrümel übersäten das Revers seiner Jacke wie Schimmelsporen, und sie konnte die Süße von Zucker und Mandeln in seinem Atem riechen.
    »Sie sehen blass aus, meine liebe Miss Talbot«, sagte Dr. Cattermole.
    »Mir geht es ganz gut, danke«, sagte Alice und entzog ihre Finger dem Griff des Arztes. »Und Sie haben die Bakewell Tart unserer Köchin genossen, wie ich sehe.«
    Dr. Cattermole stieß ein schweratmiges, zuckriges Lachen aus und bürstete sich die verräterischen Krümel weg. »Natürlich, natürlich, Miss Talbot. Wie aufmerksam Sie sind. Sie kennen meine Schwäche dafür. Ihr Vater hat extra eine backen lassen. Er ist ein äußerst liebenswürdiger Gastgeber.« Er verbeugte sich

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