Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Handbuch für anständige Mädchen

Handbuch für anständige Mädchen

Titel: Handbuch für anständige Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elaine Di Rollo
Vom Netzwerk:
doch die von ihr gewählte Route schien durch die überfrachtetsten Korridore zu führen, sodass es unmöglich war, anders als im Gänsemarsch zu laufen.
    »Alice!«, rief der Fotograf eindringlich. »Miss Talbot, wir müssen letzte Nacht besprechen. Es gibt da gewisse … Einzelheiten, gewisse mögliche Fakten, die mir zur Kenntnis gelangt sind …«
    »Ich gehe einmal davon aus, Mrs Cattermole hat durchblicken lassen, Sie könnten der Vater ihres Kindes sein?«, sagte Alice über die Schulter.
    »Ja«, sagte Mr Blake. Sein Fuß verfing sich in einer Rol le chinesischer Seide, die quer über den Gang gefallen war, und in seinem Bemühen, aufrecht stehen und in Hörweite zu bleiben, stürzte er beinahe auf Alice.
    »Und das hat Sie dazu veranlasst, im Wäscheschrank Vergessenheit zu suchen?«
    »Zu meiner Schande muss ich gestehen, ja, das hat es. Unter anderem …«
    »Achten Sie nicht auf sie.« Alice schritt weiter. »Andererseits wünschen Sie sich vielleicht, sie wäre Ihre Frau?« Sie drehte sich um und starrte den Fotografen erbost an. Mittlerweile befanden sie sich vor dem Arbeitszimmer ihres Vaters, und sie hob ungeduldig die Faust und schlug gegen die Tür. Mr Blake ergriff ihre Hand.
    »Miss Talbot. Alice«, flüsterte er. »Vergangene Nacht habe ich eingewilligt, dass Sie meine Frau werden würden.«
    »Und jetzt?«
    »Jetzt habe ich etwas erfahren. Man hat mir … gewisse Dinge gesagt. Über Sie. Gerüchte, Tatsachen, wer weiß?«
    »Was wollen Sie damit sagen, Mr Blake?«
    »Ich will sagen, dass zu meiner Kenntnis gelangt ist, dass Sie vielleicht nicht …« Mr Blake zögerte. Wie in aller Welt konnte man eine solche Frage stellen? Wie lautete die korrekte Formulierung? Gab es eine Möglichkeit, keinen Anstoß zu erregen? Er rang die Hände.
    »Was?«
    »Es ist zu meiner Kenntnis gelangt, dass Sie vielleicht nicht … ganz so sind, wie Sie zu sein scheinen.«
    »So viel haben Sie schon gestern Abend gesagt«, fuhr Alice ihn an. »Ich bin da schon nicht schlau daraus geworden, und ich werde jetzt auch nicht schlau daraus. Mr Blake, bitte reden Sie ohne Umschweife.«
    »Miss Talbot«, setzte der Fotograf erneut an, jetzt mit lauterer Stimme, als könne die Lautstärke ihm dabei helfen, sich deutlicher auszudrücken. »Sie sagen, Sie sollen ein Ausstellungsstück werden. Ein Teil der Sammlung?«
    »So wünscht es mein Vater. Das habe ich Ihnen bereits gesagt.«
    Mr Blake erschauderte.
    »Na und?« Auch Alice schrie jetzt beinahe. Wollte der Mann es nicht einfach ausspucken?
    »Sind Sie, Gott vergib mir, dass ich einer Dame eine solche Frage stelle, sind Sie ein … Hermaphrodit?«
    Just in dem Moment flog die Tür zum Arbeitszimmer auf und Mr Talbot persönlich stand im Türrahmen. Zwischen seinen Zähnen steckte eine glimmende Zigarre. Eine staubige graue Spur vorne auf seiner Weste zeigte den Weg an, den ihre niederfallende Asche über die hügelige Landschaft seines Torsos eingeschlagen hatte. »Ein Hermaphrodit?«, rief er. »Das ist zweifellos eine Beschreibungsmöglichkeit.« Er betrachtete seine Tochter mit einer Mischung aus Interesse und Feindseligkeit. »Dr. Cattermole würde sie jedenfalls so bezeichnen. Es wird interessant sein zu sehen, was die anderen Mitglieder der Gesellschaft zu dem Thema zu sagen haben. Doch vorerst einmal genug davon. Mr Blake, es gibt Arbeit. Ich ersinne derzeit ein System an Gedächtnishilfen für Sluce«, sagte er. »Das Gedächtnis des Kerls wird immer schlechter. Hoffentlich kann ich verhindern, dass es noch weiter abnimmt, indem ich ihn mit einem Mantel mit vielen Taschen versehe. Jede Tasche ist nummeriert. In jede werde ich etwas stecken, das ihn an seine Pflichten im Haus und die verschiedenen Aufgaben, die ich ihm übertragen habe, erinnert. Können Sie mir helfen?«
    Mr Blake sagte nichts. Sein Blick war unverwandt auf Alice gerichtet. Alices Blick war auf den Boden gerichtet. Mr Talbot wie auch Mr Blake deuteten dieses Schweigen als Einverständnis.
     
    Mr Blake verbrachte den Rest des Tages, und fast den ganzen Abend, mit Mr Talbot in dessen Arbeitszimmer und ging ihm bei der Auswahl von Dingen für Sluces mnemonischen Mantel zur Hand. Der Fotograf selbst sah nicht ein, wie ein solches Kleidungsstück Sluce helfen sollte, da die Objekte und ihre assoziierte Bedeutung von Mr Talbot ausgesucht wurden, ohne dass der zukünftige Nutznießer groß, wenn überhaupt, beteiligt gewesen wäre. Doch Sluce zog sich den Mantel mit den vollgestopften Taschen klaglos an

Weitere Kostenlose Bücher