Handbuch für anständige Mädchen
war Lilians Einfall gewesen – Lilian hatte nie gern auf etwas gewartet –, und sie hatte den ersten reifen Pfirsich überglücklich gepflückt und gemalt. Anschließend saßen sie gemeinsam da, mit dem Rücken an eines der riesigen Räder des Baumes gelehnt, und fütterten einander mit Scheiben des süßen, seidig weichen Fleisches.
Doch seit Lilians Abreise hatte Alice bloß eine einzige Ernte gezogen. Die künstliche Umgebung des Wintergartens bedeutete, dass sie sich aussuchen konnte, zu welcher Jahreszeit sie die Ernte wollte, und sie hatte dafür gesorgt, dass sie ins Frühjahr fiel – ihre letzte Jahreszeit mit Lilian. Während die Früchte heranreiften, durchströmte der unangenehme Geruch nach Pfirsichen das Treibhaus. Alice fand die Erinnerungen, die er in ihr wachrief, beinahe zu schmerzlich, um sie zu ertragen.
Düster starrte sie ihren Vater an. Weshalb erwähnte er das Treibhaus und den Pfirsichbaum? Er sprach keines der beiden Themen je an. Dies lag hauptsächlich daran, dass er sich nicht dafür interessierte, aber auch daran, dass er sich nicht für Alice interessierte. Doch seit Dr. Cattermoles letztem Besuch war ihr aufgefallen, dass er wachsamer denn je geworden war.
Ihr wurde bewusst, dass ihr Vater immer noch sprach.
»Deine Erklärungen interessieren mich nicht«, sagte er. »Die Beispiele sind zu zahlreich. Erst neulich hat Sluce mir berichtet, du habest mehr Interesse an Bellows’ Flugmaschine gezeigt, als angebracht ist. Dann ist da noch dein exzessiver Umgang mit der Kamera. Deine Finger sind so besudelt wie die eines Druckergehilfen, und ich habe häufig gehört, wie du Mr Blake Anweisungen bezüglich fotografischer Angelegenheiten gegeben hast – ein Thema, zu dem er als Fachmann angestellt ist –, in gebieterischem Tonfall, der sich in keinster Weise für eine Dame im Haushalt eines Gentlemans ziemt, was du, meine Liebe, ganz genau sein solltest.«
Er war immer lauter geworden, als versuche er sich über das Stimmengewirr in einem zunehmend überfüllten Zim mer hinweg Gehör zu verschaffen. »Du steuerst einen gefährlichen Kurs, meine Liebe, und könntest just an den Felsen des Wissens Schiffbruch erleiden, auf die ich dich unwissentlich zugesteuert habe.« Er schien mit dieser lebhaften Seefahrtsmetapher zufrieden zu sein und trat zurück, um die Reaktion seiner Tochter zu beobachten.
»Was meinst du damit, Vater?«, sagte Alice.
Mr Talbot sagte nichts, sondern starrte sie nur argwöhnisch an, als sei er sich nicht ganz sicher, was er da vor sich sah.
Gewöhnlich sah ihr Vater sie fast gar nicht an. Auf einmal wurde Alice klar, dass auch ihr nichts zu sagen einfiel, was wahrscheinlich unter den Umständen ganz gut war.
»Weißt du, dein Benehmen ist nicht feminin «, sagte Mr Talbot nach einer Weile mit unerwartet gedämpfter Stimme. »Selbst jetzt befinden sich deine Hände auf deinen Hüften. Sie sollten in deinem Schoß gefaltet sein. In deinen Gesichtszügen kann ich nichts Sanftes und Trostreiches entdecken, lediglich eine aus Widerspruch gerunzelte Stirn und ein herausforderndes Funkeln in deinen Augen.« Doch dann schien ihm ganz unvermittelt ein anderer, reizvollerer Gedanke in den Sinn zu kommen.
»Du selbst wirst ein Ausstellungsstück sein, meine Liebe. Quod erat demonstrandum. « Lächelnd tätschelte er ihr den Arm. »Welch vortrefflicher Einfall! Nun denn, sieh doch einmal, ob du Mr Blake ausfindig machen kannst. Schick ihn auf der Stelle zu mir. Du könntest dich außerdem nützlich machen, indem du den Mitgliedern der Gesellschaft zur Ver breitung Nützlichen und Interessanten Wissens schreibst und sie am neunundzwanzigsten des nächsten Monats zu einem Abend mit Experimenten, Aufklärung und Kurzweil unter Gentlemen in dieses Haus einlädst.«
4
»Da sind Sie ja«, sagte Tante Pendleton neben Mr Blakes Ell bogen.
Er unterdrückte einen Aufschrei. Wie sich diese alten Da men an einen heranschlichen!
Tante Pendleton tätschelte seine Hand. »Alice sucht Sie. Geht es Ihnen wieder gut?« Sie betrachtete forschend sein Gesicht. »Sie sehen ein wenig blass aus, aber das ist wohl nicht anders zu erwarten. Sie haben uns allen einen ziemlichen Schrecken eingejagt, wissen Sie …«
»Ja, danke, ich habe mich wieder gänzlich erholt«, unterbrach der Fotograf sie hastig. »Ich muss mich dafür entschuldigen, derart für Unruhe gesorgt zu haben. Ich weiß kaum, wie ich es Ihnen erklären oder gar wie ich Ihnen und den anderen Damen dafür danken soll, dass
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