Handbuch für anständige Mädchen
Schauvitrinen von seinem Londoner Kunsttischler abgelenkt worden. Als die Köchin die Form ein paar Stunden später aufgemacht hatte, hatte sie darin das völlig verkohlte Nagetier vorgefunden. Mr Talbot hatte wütend auf diese experimentelle Katastrophe reagiert und war selbst in den Ofen geklettert und hatte sich backen lassen, zwölf Minuten bei mäßiger Temperatur, und die ganze Zeit über sein eigenes physiologisches Wohlbefinden beobachtet. »Keinerlei spürbare schädliche Auswirkungen«, lautete insgesamt sein Urteil.
»Was für Experimente?«, fragte Alice erneut.
»Ach, nichts weiter.« Mr Talbot betrachtete ein Terrakottamodell der Hamburger St.-Nikolai-Kirche. »Ich will einen künstlichen Vulkan herstellen – es ist eine einfache Variante einer recht gängigen Mischung, die bei Feuerwerken Verwendung findet, aber es sollte dennoch von Interesse sein. Ich spiele mit dem Gedanken, zu dem Zweck den Rasen vor dem Haus herzunehmen. Die zu dem Verfahren notwendigen Eisenspäne und der Schwefel werden in ein paar Wochen eintreffen. Uns sollte reichlich Vorbereitungszeit bleiben. Ich werde deine Hilfe benötigen, sämtliche notwendigen Vorkehrungen zu treffen.«
»Ich helfe bereits Mr Blake«, sagte Alice.
»Tja, Mr Blakes Hilfe werde ich selbstverständlich ebenfalls brauchen. Er wird seine fotografischen Bemühungen vielleicht ein oder zwei Wochen aufschieben müssen. Wo steckt der arme Teufel überhaupt?«
»Ich habe keine Ahnung.«
»Hast du ihn heute gesehen?«
»Nein, Vater.« Letzteres entsprach nur teilweise der Wahrheit. Alice hatte auf ihrem Weg durch die Sammlung wissenschaftlicher Instrumente einen Blick auf Mr Blakes entschwindenden Rücken erhascht. Die Bewegungen des Fotografen waren schnell und verstohlen gewesen, sodass Alice sich anfangs gar nicht sicher gewesen war, ob es sich tatsächlich um ihn handelte. Sie hatte nach ihm gerufen, doch er schien sie nicht zu hören, sondern hatte sich hinter eine lebensgroße Tonplastik von Sir Walter Raleigh geschoben. Als Alice die Stelle erreicht hatte, wo sie ihn gesehen hatte, war er verschwunden gewesen.
»Vielleicht schämt er sich«, hatte Tante Pendleton geflüstert, als Alice vom ausweichenden Verhalten des Fotografen erzählt hatte.
»Er kann uns nicht ewig meiden«, hatte Alice erwidert.
»In der Tat«, sagte Mr Talbot gerade, »würde Mr Blake mit seinem Wissen über Chemikalien und dergleichen den idealen Gehilfen bei der Erschaffung des künstlichen Vulkans abgeben. Eine schwierige und gefährliche Aufgabe für den Unkundigen, aber eine, an der ein unerschrockener junger Mann wie Mr Blake bestimmt nur zu gerne beteiligt wäre.« Mr Talbot rieb sich eifrig die Hände, als versuche er, ein Feuer zu entfachen. »Vielleicht würdest du den Knaben für mich finden. Schick ihn schnurstracks in mein Arbeitszimmer. Dort können wir die Angelegenheit besprechen.«
»Soll ich auch kommen? Wenn ich behilflich sein soll …«
»Deine Rolle wird administrativ sein.« Mr Talbot räusperte sich und blickte streng auf sie herab. »Ich muss schon sagen, Alice, mir ist aufgefallen – ja, ich habe mich bei Cattermole zu bedanken, dass er es mir so deutlich vor Augen geführt hat –, dass du geradezu erpicht darauf bist, beteiligt zu werden. Es ziemt sich nicht. Für eine Dame.«
Alice blinzelte. »Welche Dame?«
»In der Tat!« Mr Talbots Augen quollen hervor. »Beispielsweise deine Handhabung der Machete im Treibhaus – meinst du, davon wüsste ich nicht? Ja, ich habe dich mit eigenen Augen gesehen, wie du mit der Klinge wie ein Gärtnergehilfe umgehst. Und erst letzte Woche habe ich dich erblickt, wie du, die Schulter gegen den hinteren Teil dieses monströsen Transportmittels für den Pfirsichbaum gestemmt, das Ding zentimeterweise vorwärtsgeschoben hast wie ein Arbeiter auf einer Schiffswerft.«
»Die warme Luft aus den Heizrohren tut den Früchten gut. Es gibt niemanden mehr, der mir helfen könnte, seit …«
Alice schwieg. Die Erwähnung von Lilians Namen würde ihn nur reizen. Und dennoch war es unmöglich, an den Pfirsichbaum zu denken, ohne an sie zu denken. Sie hatten sich gemeinsam darum gekümmert, hatten ihn vor Schimmel und Blattläusen behütet, liebevoll seine Äste gestutzt und seine rosig goldenen Früchte abgeerntet. Ja, sie und Lilian waren mit der Zeit derart bewandert gewesen, dass sie ihm zwei seiner drei üppigen Ernten pro Jahr einfach dadurch entlockten, dass sie ihn in andere Teile des Wintergartens rollten. Es
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