Hanibal
zu Hannibal gegangen zu sein; was der Stratege abfließen lassen mußte, hätte Maharbal überfordert und wäre bei Mago auf Unverständnis gestoßen. Außer dem Hellenen gab es nur noch einen Menschen, der an Hannibals Lager hätte sitzen, lauschen, leise raten oder widersprechen können: Hasdrubal, der ihm in vielen Hinsichten so ähnlich war. Aber der Bruder schlug sich in Iberien mit Roms Legionen und iberischer Starrköpfigkeit herum.
Ein Gefilde, in dem die Gedanken des Strategen wie in einem Labyrinth wanderten, war das, was er schlicht Wärme nannte.
»Zwei wunderbare Winter im neuen Qart Hadasht… Himilkes Augen und Arme, und mit dem Kleinen spielen.« Dann, nach kurzem Schweigen: »Wenn ich als Junge länger bei dir und Tsuniro war, habe ich es gefühlt und geliebt.« Er suchte nach Worten, um seine Gedanken klarer darzulegen, zu verdeutlichen, Unterschiede zu machen, und wechselte vom Punischen zur Koine. »Zwischen euch eros, Tiggo, und agape, beides zusammen, und die Geborgenheit für mich war auch all das zugleich, eros, agape, philia, Tsuniros Streicheln und Lachen, dein Spott und deine Umarmung…«
»Soll ich dich mehr verspotten oder häufiger umarmen?« Hannibal grinste. »Beides. Vor allem: Ich weiß, daß du in Libyen andere Dinge zu tun hast, aber – geh nicht zu bald fort.«
Danach bat er Antigonos, ihm von Kshyqti zu erzählen, der Mutter, an die er sich als an unendliche Wärme und Sanftheit erinnerte, die ihn kurz nach seinem vierten Geburtstag verlassen hatte. Später, nachdem der Hellene erneut die Binden getränkt hatte, verlangte er Fleischbrühe und »Ruhe, bis ich mich von selbst melde. Ich glaube, ich kann gleich schlafen.«
Mago, Maharbal und Muttines warteten; die übrigen hatten sich verstreut, um die Dinge zu erledigen, die getan werden mußten. Mago sprang vom Tisch auf, als Antigonos eintrat, kam ihm entgegen und legte die Hände auf seine Schultern.
»Wie… was meinst du?«
»Er ist gesund. Was die Augen angeht, das kann ich nicht beurteilen, aber sonst fehlt ihm nichts. Er will Brühe und dann schlafen.«
Muttines seufzte erleichtert, Maharbal strahlte, und Mago tat etwas Unerhörtes: Er zog den Hellenen einen Moment lang an seine Brust. »Ich danke dir – Tiggo.« Dann grinste er und verbesserte sich: »Metöke.«
»Keine Ursache, Punier.«
»Obwohl«, sagte Mago, plötzlich wieder ernst, »wenn er wirklich erblindet…«
»Das liegt beim Schicksal und bei Memnon. Aber sag mir , Mago – von wem möchtest du lieber geführt werden, von einem blinden Hannibal oder einem verblendeten Pyrrhos? Oder von sämtlichen römischen Konsuln sehend?«
Muttines hob beide Arme. »Und wenn ich den Mond fangen müßte, damit er in Gedanken sieht, Antigonos – lieber Hannibal ohne Augen, ohne Ohren und notfalls ohne Beine.«
»Nicht, daß wir es ihm wünschten«, sagte Maharbal.
Antigonos gab einem Küchensklaven Anweisungen und ging zurück in Hannibals Raum. »In wenigen Minuten wirst du verbrüht, Stratege. Hast du sonst noch einen Wunsch?«
»Schick einen Sklaven, der mich füttert – ich darf ja die Augen nicht öffnen, sagt dein Sohn. Und gib mir etwas zu denken – etwas anderes.«
»Füttern werde ich dich selbst. Was möchtest du gern denken? Etwas Kräftigendes für schlaffe Feldherren?«
Hannibal kicherte. »Etwas, das neue Entwässerungskanäle in meinem Gehirn zieht.«
Antigonos setzte sich wieder auf die Lagerkante. »Ah. Das wird schwierig. Willst du Weisheiten oder Dummheiten?«
»Beides, Tiggo. Alles, was dir einfällt.«
»Habe ich dir mal von Taprobane erzählt?«
»Die Insel südlich von Indien? Ich weiß, daß du dort warst, aber mehr, glaube ich, hast du nie erzählt.«
»Es gab da einen Händler aus China. Er hatte eine sehr freundliche und entgegenkommende Tochter; das war mir damals wichtiger als die Perlen seiner Rede. Aber ich erinnere mich an einige. Nicht gut aufgereiht, wie Perlen sein sollten, eher zufällig. Paßt aber für dich ganz gut. ›Ein gefällter Baum wirft keine Schatten‹, o darniederliegender Stratege. Und:
›Selbst ein dickes Seil beginnt an einem Faden zu faulen.‹ Oder dies – ›ein Floh auf der Schlafmatte ist übler als ein Löwe in der Steppe.‹ Und was der Vater des schönen Mädchens mir besonders nachdrücklich sagte, als ich zu viele Pläne gleichzeitig erörterte: ›Ein Berg von Federn bringt ein Boot zum Sinken.‹ Oder: ›Von einem Büffel zieht man nicht zwei Häute ab.‹ Kann dich derlei zu ein
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