Hanibal
dem Sammeln und Sichten der Toten befaßt; die anderen schliefen, hielten Wache, tranken, redeten. Die Nacht war kühl und klar; Antigonos lag auf dem Rücken, in einen Mantel gewickelt, zählte die Sterne und versuchte, nicht zu denken.
Im Morgengrauen, als mit der beginnenden Wärme wieder Dunst aus dem See brodelte, gab er alle sinnlosen Versuche auf, erhob sich, ging zu einem der Kochfeuer und ließ sich einen großen Becher mit heißem Würzwein füllen. Er fand Hannibal auf einem Felsen, nicht weit vom Lager; die Posten, die einen Halbkreis der Stille um den Strategen bildeten, ließen Antigonos durch.
Hannibal hatte die Arme verschränkt und starrte nach Süden; dort irgendwo lag Rom. Zu seinen Füßen türmte sich der Berg römischer Waffen, die das Rüstungsdurcheinander der Kelten beenden und unbrauchbar gewordene, rostige, schartige Schwerter bei Libyern und Iberern ersetzen sollten. Das Gesicht des Puniers war grau im grauen Dunst des grauen Morgens.
Antigonos trat leise neben ihn, legte ihm die linke Hand auf die Schulter und reichte ihm mit der Rechten den Becher.
»Danke, Tiggo.«
»Warst du die ganze Nacht hier?«
Hannibal zuckte mit den Schultern; er trank. Dann schaute er wieder hinab auf die Waffen. Und die riesigen halbgefüllten Gruben.
»Was macht deine Leber, Junge?«
Hannibal blinzelte, müde und überrascht. »Wieso Leber?«
»Du siehst aus wie Prometheus persönlich.«
Der Punier lachte gepreßt. Er deutete auf das Ufergelände.
»Es werden keine Adler kommen; nur Geier.«
Antigonos nahm ihm den Becher ab, trank, reichte das Gefäß zurück. »Du hast das unbesiegbare Rom zum dritten Mal besiegt, Stratege«, sagte er halblaut. »Ein ganzes konsularisches Heer vernichtet. Und du siehst aus, als ob du lieber verloren hättest.«
Hannibal hielt den schmucklosen Kesselhelm in der Hand, betrachtete ihn, setzte ihn auf; erst jetzt nahm er den Becher wieder an.
»Nein. Das nicht.« Er trank, hielt den Becher in der Linken, legte den rechten Arm um die Schulter des Hellenen. »Du hast ihn doch gekannt, Tiggo – wie hat sich mein Vater gefühlt , nach dem Kampf?«
Antigonos zögerte, entschied sich dann für die Wahrheit.
»Krank. Todkrank. Elend. Wie du. Ich glaube, das endet nie, auch nicht nach tausend Schlachten. Es sei denn, es gelingt dir, jeden einzelnen zu hassen.«
»Bauern, Handwerker, Bürger«, sagte Hannibal. Mit dem Fuß deutete er nach unten, zu den Gruben. »Söhne, Väter , Brüder. So viel Leben. Da unten liegen zehntausend weinende Familien. Wie soll ich sie hassen? Ich… Nicht zu reden von unseren Männern.« Er seufzte. »Warum lassen sie uns nicht einfach in Ruhe?«
»Mach dein Herz hart, Stratege«, sagte Antigonos laut. »Die Römer werden dich, mich, uns, die Welt erst in Frieden lassen, wenn du sie dazu zwingst. Falls es dir gelingt.«
»Falls.«
»Außerdem vergiß nicht, Hannibal – die Römer sagen, es sei süß und ehrenvoll, für das Vaterland zu sterben.«
»Rattenkacke mit grüner Tunke.« Der Punier spuckte aus. Er ließ Antigonos’ Schulter los und zupfte an seiner Augenklappe.
»Diese herben tugendhaften Philosophen. Man sollte sie zwingen, zwei Tage nach einer Schlacht von jedem Toten ein Stück wimmelndes Fleisch zu essen. Süß und ehrenvoll! Sie sollten sich so verhalten, daß man in allen Ländern süß und ehrenvoll leben kann.«
Antigonos schwieg. In Gedanken war er mit Naravas an Hamilkars Seite, in einem halberleuchteten Zelt, nach der Schlacht am Fluß, nach dem Gemetzel im Tal der Säge.
Als Hannibal wieder sprach, klang seine Stimme wie die von Hamilkar. »Nur eins ist noch furchtbarer als der Sieg«, sagte er langsam. »Die Niederlage.«
Antigonos legte eine Hand auf den Arm des Puniers. »Das ist ein anderes Fest, das du erst feiern solltest, wenn es dir zufällt.«
SOSYLOS VON SPARTA, IM WINTERLAGER ZU GERUNIUM, AN ANTIGONOS VON KARCHEDON, HERR DER SANDBANK , KARCHEDON – KARTHAGO – QART HADASHT, LIBYEN - AFRIKA (WIE DIE RÖMER SAGEN)
Vielfaches Heil, Gewinn, Mehrung des Bestehenden und Meidung von Verlust – o Tiggo: Hannibal trug mir auf, dir dies und jenes zu schreiben; ich will manches und anderes hinzufügen. Erwähnt sei etwa – dies trug der Stratege mir keineswegs auf –, daß er deinen Spott und deinen Rat vermißt. Es sind einige neue Hellenen im Lager, oder Halbhellenen: Epikydes, Sohn eines Verbannten aus Syrakosai und einer punischen Mutter, und sein Bruder Hippokrates, beide aus Karchedon. Kennst
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