Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hanibal

Hanibal

Titel: Hanibal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisbert Haefs
Vom Netzwerk:
vervielfältigten alle Schatten, gaben den Dingen und Menschen fantastische Umrisse und Tiefen, die sich unaufhörlich wandelten. Aber es waren nicht viele Leute unterwegs – zu spät für Geschäfte, zu früh für das Nachtleben. Aus einer der oberen Wohnungen eines sechsgeschossigen Mietshauses hörte Antigonos Kindergeschrei. Vor ihm verschloß ein alter Mann mit Turban seinen Laden; durch die Ritzen drang der Geruch von Käse. Aus einem Tor ergoß sich eine Lichtkaskade über die Gasse; im Innenhof des Hauses loderte Feuer. Zuckende Gestalten, halb erhellt und gleichzeitig verformt, hantierten mit Bratspießen. Auf dem groben Tisch neben dem Tor lagen zwei Hammel, frisch geschlachtet, ausgeweidet und abgezogen. Aus dem Holzkübel quollen Gedärme. Im Weitergehen rutschte Antigonos aus; das Hammelblut hatte Pfützen auf dem Pflaster gebildet.
    Es war der lebhafteste, offenste Teil von Qart Hadasht. Die Metöken, Gäste ohne Bürgerrechte, stellten fast ein Fünftel der Stadtbewohner. Hellenen, Libyer, Numider, Kreter, Ägypter, hellhäutige Garamanten aus dem Inneren Libyens, dunkle Gätulier aus den Randgebieten der südnumidischen Wüsten, Elymer, Sikelioten, Iberer, Balliaren, Gallier, alle mit ihren Gebräuchen und Sprachen und Gewändern, voneinander und von Qart Hadasht beeinflußt und verändert und aufgespalten. Es gab einen punisch geprägten Dialekt der gallischhellenischen Sprachmischung, wie sie im Hinterland von Massalia benutzt wurde; in Qart Hadasht neben Augilern und Elymern aufgewachsene Kinder von Makedonen aus Alexandreia redeten eine Zunge, die alle Philologen der hellenischen Akademien zur Verzweiflung gebracht hätte. Die meisten waren kleine Händler, kleine Handwerker, Arbeiter der Fabriken, Werkstätten, Docks und des Hafens; es gab freigelassene Sklaven, die in schäbigen Holzverschlägen hausten und davon lebten, daß sie die Kotkübel ihrer Nachbarn wegschafften, und freigelassene Sklaven aus guten punischen Häusern, die den Kindern ihrer Nachbarn Lesen und Schreiben beibrachten.
    Antigonos lief ein paar Schritte, als ein Warnruf von oben ertönte. Hinter ihm platschte der Inhalt eines Koteimers auf die Gasse, vermischt mit Küchenabfällen und allen möglichen Dingen von unsagbarem Ruch. Er fluchte leise; dann grinste er. Es wäre ungerecht, nur zu fluchen, sagte er sich; dies hier war seine Heimat, und nirgendwo sonst gab es diese reiche Vielfalt des Ärmlichen, diese ungeheure und ungeheuerliche Menschensumme. Die brodelnde Unterstadt von Qart Hadasht, der dicke Sud, der Bodensatz von sechshundert Jahren – sechshundert Jahren einer Stadt, die bereits groß gewesen war, ehe die Ahnen der italischen Barbaren den ersten Misthaufen dort aufschütteten, wo heute Rom stand; einer riesigen Stadt, die niemals erobert, niemals zerstört worden war, anders als Athen, Damaskos, Babylon oder die uralten Städte Ägyptens.
    Und es war dieser wirre Teil von Qart Hadasht, der in den vergangenen Jahrzehnten die größten Wandlungen der punischen Hauptstadt bewirkt hatte. Antigonos wußte sehr wohl, daß er noch vor sechzig, höchstens siebzig Jahren, als sein Urgroßvater aus Leontinoi nach Karchedon kam und das Geschäft begründete, für seine frivolen Scherze gekreuzigt worden wäre. Zweifellos gab es in den alten Familien noch genug von dem finsteren, fanatischen Puniertum, das die Hellenen immer so entsetzt hatte und nach wie vor durch die Geister vieler Bewohner der Oikumene spukte. Aber die Sklaven, die Söldner aus der ganzen Welt, die nicht immer nach der Entlassung heimkehrten, die Händler, nicht zuletzt auch die hellenischen Lehrer und Philosophen – sogar die absurden Pythagoräer waren vergleichsweise lichtvoll – hatten die Stadt verändert, geöffnet, erweitert und bereichert. Nicht nur die Fremden, natürlich – auch die Punier selbst hatten dazu beigetragen. Händler, die Niederlassungen am Ganges und auf Taprobane unterhielten, die Zinn und Bernstein aus dem Norden holten, wo an Sommermittagen die Sonne nicht senkrecht, sondern weit im Süden stand, und die an der libyschen Westküste dorthin segelten, wo an Sommermittagen die Sonne nicht senkrecht, sondern im Norden brannte; die verlogene Kreter belügen und gerissene Achaier überlisten konnten, die einem Araber Sand und einem Bewohner von Memphis/Mennofre eine Nachbildung der Pyramiden verkauften; die jenseits der Säulen des Melqart mit ihren Schiffen gegen den Wind kreuzten und nachts ihren Kurs an den unwandelbaren

Weitere Kostenlose Bücher