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Hannah, Mari

Hannah, Mari

Titel: Hannah, Mari Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sein Zorn komme uber uns
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schon zu spät für ihren ersten Termin. Die Einrichtung lag in einem sozialen Brennpunkt. Viele Häuser waren verlassen, warteten nur noch auf den Abriss. Ihres war schwer gesichert, mit einer elektronischen Alarmanlage, die direkt mit dem örtlichen Polizeirevier verbunden war, mit Eisengittern vor den Fenstern und Kameraüberwachung. In die mittlere Kassette der Eingangstür hatte jemand das Wort WICHSER eingeritzt. Jo war so daran gewöhnt, dass sie es kaum noch wahrnahm.
    Sie holte tief Luft und schloss die Tür auf.
    Ein paar Klienten im Wartezimmer glotzten sie finster an, als sie vorbeiging. Der Erste in der Reihe war Gary Henderson. Er sah nicht gerade angenehm aus. Beinahe so breit wie hoch, war er ein hässlicher Mann mit einer Narbe auf der rechten Wange und einer Nase, die fast völlig zerstört war vom Heroin.
    Jo spürte seinen Blick in ihrem Rücken, als sie ins Büro ging, um einen raschen Blick in ihren Terminplan zu werfen. Es konnte kaum schlimmer kommen: ihre beiden übelsten Klienten direkt hintereinander, und das an einem Tag, an dem sie sich am allerwenigsten in der Lage sah, mit ihnen zurechtzukommen. Im Grunde sah sie sich nicht in der Lage, überhaupt mit irgendjemandem zu sprechen, also ging sie zurück ins Wartezimmer und breitete entschuldigend die Arme aus.
    »Es tut mir schrecklich leid, aber ich muss Ihre Termine verlegen.«
    Der nächste Klient in der Reihe, Jonathan Forster, stand auf. Er rückte seine Baseballkappe zurecht, rollte seine Zeitschrift zusammen und steckte sie in die hintere Hosentasche seiner Jeans. Dann ging er, ohne ein Wort zu sagen, hinaus, gefolgt von allen anderen, außer einem.
    Henderson würde nirgendwo hingehen. Er drängelte sich an Jo vorbei, als sie in ihr Büro zurückkehren wollte. Als sie ihn eingeholt hatte, hatte er sich schon auf einen Stuhl fallen lassen, kaute Hautfetzen von seinen Nägeln ab und spuckte die Stückchen, die er abgebissen hatte, in aller Ruhe in den Raum. Bei normalen Menschen wäre ein solches Verhalten schockierend gewesen. Bei Henderson und vielen anderen ihrer Klienten war es traurige Normalität. Jo wusste, dass sie sich auf etwas gefasst machen musste.
    »Ich habe Ihnen schon gesagt, dass ich ein solches Verhalten in meinem Büro nicht dulde.« Sie hielt ihm ein Taschentuch hin. »Ich dachte, wir hätten eine Vereinbarung.«
    »Hatten wir …« Henderson grinste und ignorierte ihre ausgestreckte Hand. »Ich bin pünktlich hier aufgekreuzt. Sie waren zu spät.«
    »Es war leider unvermeidlich.«
    Sie log, um ihm keinen Anlass zu geben auszuflippen. Er neigte von Zeit zu Zeit dazu. Nicht, weil er irgendeinen Grund dazu gehabt hätte, sondern einfach nur so.
    Henderson räusperte sich und schluckte den Schleim aus seiner Kehle geräuschvoll hinunter. Wenn das ein Versuch war, sie aus der Fassung zu bringen, so hatte es den gewünschten Effekt.
    Jo war schlecht, sie stand auf und ging zum Wasserbehälter. Er war fast leer, das Wasser brauchte eine Ewigkeit, um in den Plastikbecher zu tröpfeln, was die Unruhe ihres Klienten noch steigerte. Sie hoffte, er würde vielleicht einfach verschwinden. Doch als sie sich umdrehte und zu ihrem Schreibtisch zurückging, war er gerade dabei, es sich bequem zu machen.
    »Nur, weil ich Sie wegen der Bewährung regelmäßig aufsuchen muss, heißt das nicht, dass Sie mich wie ein Stück Scheiße behandeln können«, grinste er. »Ich will, was mir zusteht, Miss.«
    Jo sah auf die Uhr an der Wand.
    Zehn Uhr.
    Als spürte er ihre Abneigung, rückte Henderson mit seinem Stuhl ein bisschen näher, stützte die Ellbogen auf ihren Schreibtisch und ließ seine Knöchel knacken. Aus solcher Nähe erschien sein Körper wesentlich größer und kräftiger, als er es in Wirklichkeit war. Wieder ließ er seine Fingerknöchel knacken, machte eine Show daraus, die sie einschüchtern sollte. An seinen geweiteten Pupillen konnte sie sehen, dass er von irgendeinem Zeug high war. Sie hatte keine Kraft, um mit ihm zu streiten, setzte sich und schrieb seinen Namen oben auf eine neue Seite in ihrem Notizbuch.
    Das Gespräch begann schlecht. Warum überraschte sie das nicht? Henderson war sein ganzes Leben lang schwierig gewesen; seine Impertinenz und sein rüpelhaftes Verhalten hatte man bereits auf jedem Arbeitsamt, in jeder Arztpraxis und jeder Polizeistation im Umkreis von dreißig Meilen erlebt. Sie betreute ihn seit seiner Entlassung auf lebenslange Bewährung vor vier Jahren. Die meiste Zeit seines

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