Hannah, Mari
Zeitpunkt wäre, sie allein zu lassen und zum Rauchen vor die Tür zu gehen, und steckte sie wieder weg.
»Erinnerst du dich noch an Ben Carter?«, fragte er.
Sie antwortete nicht, auch wenn sie aussah, als wüsste sie, was jetzt kam.
»Der war auch sehr ehrgeizig. Hat seine Frau verloren und seine Kinder. An dem Morgen, an dem er tot umgefallen ist, ist Bright zum Dienstplan gegangen und hat seinen Namen von der Tafel gewischt.« Gormley leckte den Zeigefinger an und zog eine horizontale Linie in der Luft. »Das war’s. Der arme Kerl war noch nicht mal kalt, da war schon eine Stelle frei. Denkst du, das würde bei dir anders laufen?«
Daniels sah weg.
»Du hast nur ein Leben, Kate.«
»Halt mir keine Predigten, Hank. Ich weiß, was auf dem Spiel steht.«
»Ach ja?« Gormley schüttelte den Kopf. »Du hast es immer noch nicht kapiert, was? Wir haben 2009, mein Gott! Schwul, lesbisch, hetero, interessiert das noch irgend wen?«
»Allerdings. Du bist derjenige, der’s nicht kapiert!« Sie holte tief Luft. »An der Oberfläche sind alle furchtbar nett, Hank. Es ist cool, einen schwulen Freund zu haben; jeder Liberale, der was auf sich hält, sollte einen haben. Aber kratz nur ein bisschen an der Oberfläche, dann ist das eine vollkommen andere Geschichte, glaub mir. Die Kirche ist nicht die einzige Institution, die Homosexualität ablehnt. Nein. Es ist so schon schwer genug, durch die gläserne Decke zu stoßen, da muss ich es nicht noch zehn Mal schwerer machen.«
Gormley hob sein Glas und nahm einen tiefen Schluck. Er fing an zu verstehen. Sie brach in Tränen aus, und er rutschte einen Platz weiter, so dass er neben ihr sitzen konnte.
»Komm her …« Er legte den Arm um sie und zog sie an sich. »Also, wer weiß noch davon?«
Sie wich zurück. »Bist du verrückt? Es wäre beruflicher Selbstmord, ausgerechnet jetzt was zu sagen. Da könnte ich sie genauso gut direkt auf Martins Schreibtisch bumsen, während der Chef daneben steht und zuguckt.«
Gormley lächelte bei der Vorstellung. »Niemand?«
»Nein, na gut, mein Vater.«
»Und?«
Daniels schluckte. »Der tut sich schwer.«
»Dann ist er ein Idiot.« Gormley wusste, dass die Beziehung zu ihrem Vater schwierig war. Nicht, weil sie es ihm gesagt hätte. Es war mehr das, was sie nicht gesagt hatte, was bei ihm diesen Eindruck hinterlassen hatte. Bei den seltenen Gelegenheiten, zu denen sie über ihr Privatleben sprach, hatte sie immer mit großer Zuneigung von ihrer Mutter gesprochen. Er hatte nie ganz verstanden, warum. »Irgendwann wird er schon drüber wegkommen …«
»Nicht, Hank!«, unterbrach sie ihn. Dann dachte sie einen Moment nach. »Merkwürdige Ironie, oder? Jo und ich, das ist längst Geschichte, seit Monaten.«
»Warum dann?«
Sie zog eine Grimasse. Warum wohl?
63
Als sie in die Einsatzzentrale zurückkamen, war das ganze Team um Bright versammelt, der ein improvisiertes Meeting abhielt. Daniels wusste, dass sie Ärger bekommen würden. Sie hatte seine Anrufe in den letzten zwei Stunden ignoriert.
»Wo zum Teufel habt ihr beide denn gesteckt?«, fragte Bright. »Eine neue Zeugin ist aufgetaucht, die in einer Reinigung arbeitet. Sie behauptet, Soulsby habe am Freitagmorgen einen Mantel voller Blutflecken dort abgegeben, auf den die Beschreibung des Taxifahrers passt. Ich denke, ihr vorgeblicher Gedächtnisverlust ist nichts anderes als eine Strategie, um uns hinters Licht zu führen. Ich weiß, das ist schwer zu glauben, wenn man bedenkt, dass wir manchmal mit ihr zusammenarbeiten, aber wir können die Beweise nicht länger ignorieren. Wir müssen handeln.«
Daniels war wie erschlagen von der Nachricht. Was als winziger Zweifel in ihr gekeimt war, wuchs sich nun immer schneller zu einem veritablen Verdacht aus. Sie begann, an ihrem eigenen Urteilsvermögen zu zweifeln: Hatte sie den Fall der Beförderung wegen angenommen oder um eine Frau zu schützen, die sie noch immer liebte? Um Gormleys Blick auszuweichen, kramte sie mit gesenktem Kopf in ihrer Aktentasche herum und behielt ihre Gedanken zu Stephens’ sexueller Brutalität für sich. War das nicht von Anfang an ein starkes Motiv für einen Mord gewesen? War es nicht genau das gewesen, was sie von dem Augenblick an, als sie Stephens erkannte, so schwer bedrückt hatte? Die Antwort auf beide Fragen musste Ja lauten. Aber sie konnte immer noch nicht glauben, dass es sich hier um einen Racheakt handeln sollte.
»Ist das klug, Chef?«, fragte sie. »Vielleicht ist sie noch gar
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