Hannah, Mari
wenn sie ehrlich war, war die Verantwortung ihre und ihre ganz allein. Also was machte es schon, wenn er ihr nicht genug Zuneigung gezeigt oder ihr nicht ein einziges Mal gesagt hatte, dass er stolz auf sie war und auf das, was sie erreicht hatte? Das war sein Problem, nicht ihrs. Nein. Wie sie es auch drehte und wendete, sie war diejenige, die all die falschen Entscheidungen getroffen hatte. Sie hatte sich dazu entschieden, ein Doppelleben zu führen, und jetzt zahlte sie den Preis dafür.
Und, unglücklicherweise, Jo ebenfalls.
Die Worte auf dem Papier schmeckten nach lahmen Ausreden. Sie knüllte das Blatt zusammen und warf es auf den Boden, wo es zwischen den Überresten anderer gescheiterter Versuche landete. Sie wollte gerade von vorne anfangen, als auf BBC die Sendung Crimewatch begann.
Gormley machte sich eine Dose Bier auf und nahm einen großen Schluck. Er fand, dass die schottische Moderatorin Kirsty Young, heute in einer makellosen weißen Bluse und einem schwarzen Blazer, außergewöhnlich attraktiv aussah, wie sie die langen Beine übereinanderschlug und ihr das kunstvoll zerzauste Haar locker auf die Schultern fiel.
Er spitzte die Ohren, als sie die Öffentlichkeit um Informationen zu den Morden an Jenny Tait und Jamil Malik bat. Er wusste, dass Daniels die Sendung wahrscheinlich auch sah. Sie war immer noch davon überzeugt, dass diese Fälle mit den Morden an Sarah Short und Father Simon in Verbindung standen, auch wenn sie es im Moment nicht beweisen konnte. Er war geneigt, ihr zuzustimmen. Warum sonst hätte der Mörder ausgerechnet ihr einen Zeitungsausschnitt mit dem Bild seines nächsten Opfers schicken sollen?
Warum hatte er ihn nicht an Naylor geschickt?
Auf einem hohen Stuhl thronend blickte Kirsty mit ernster Miene direkt in die Kamera, echte Besorgnis in der Stimme: »Die Polizei braucht Ihre Hilfe in diesen beiden brutalen Mordfällen. Heute Abend sind bei uns Detectives aus Durham und den West Midlands im Studio, unser Telefon-Team wartet wie immer darauf, Ihre Anrufe entgegenzunehmen. Lassen Sie uns nun zuerst hören, was Superintendent Naylor von der Durham Constabulary …«
Die Kamera schwenkte zu Naylor, Name und Rang wurden am unteren Rand des Bildschirms eingeblendet. Gormley lächelte und nahm noch einen Schluck von seinem Bier. Sein Kollege aus Durham sah entspannt aus vor der Kamera, in seinem dunklen Anzug mit der dunkelblauen Krawatte erinnerte er ihn an die ältere Ausgabe der Fußballlegende Alan Shearer. Seine Ausstrahlung war klar und eindeutig, sie besagte: Leg dich nicht mit mir an.
Gormley griff zur Fernbedienung und stellte lauter.
»Ja, das ist richtig, Kirsty. Wir wissen, dass diese beiden Fälle miteinander in Verbindung stehen. Bei beiden Opfern wurde am Tatort eine katholische Andachtskarte wie diese hier hinterlassen.« Naylor hielt eine Karte hoch.
Gormley stellte sein Bier ab und griff zum Telefon. Mit einem Auge auf dem Fernseher wählte er Daniels’ Nummer.
Sie war gleich dran.
»Hast du den Fernseher an?«, fragte er.
»Ja … sieht aus, als hätte Ron den Kürzeren gezogen.«
»Spinnst du? Mein ganzes Leben hab ich auf so einen Fall wie den gewartet.« Gormley zerdrückte seine leere Bierdose, stellte sie auf den Boden und griff nach einer weiteren. Er machte sie auf und nahm einen tiefen Schluck. »Glaubst du, dass das irgendwas nützen wird?«
»Willst du die Wahrheit hören?«
»Solltest du nicht eigentlich auch da sitzen?«
»Warum?«
»Äh, hallo? Persönlich zugestellte Fotos der Opfer!«
»Ron und ich haben darüber gesprochen …« Sie hörte sich abgelenkt an. »Er war der Meinung, wir sollten das derzeit noch für uns behalten und abwarten, was sich ergibt. Wenn wir es jetzt an alle herausgeben, locken wir wahrscheinlich die ganzen Spinner, komischen Käuze und Trittbrettfahrer an. Da hat er nicht ganz Unrecht. Keiner uns will ein ›Ich bin der Ripper‹-Szenario.«
Gormley dachte einen Moment lang darüber nach. Der Wirbel um den falschen »Ripper« hatte vor gar nicht so langer Zeit sein hässliches Haupt erhoben, beinahe dreißig Jahre nachdem er die Jagd nach dem realen Yorkshire-Ripper, Peter Sutcliffe, zum Scheitern gebracht hatte. Der Mann, der dafür verantwortlich war, saß – zu Recht – für Jahre im Gefängnis. Tausende von unschuldigen Männern überall in Wearside waren unnötigerweise befragt worden, man hatte kostbare Zeit und Ressourcen verschwendet, und letztlich waren die Detectives in Yorkshire vom
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