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Hannahs Briefe

Hannahs Briefe

Titel: Hannahs Briefe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronaldo Wrobel
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streitsüchtige und verlogene Spezies erhalten? Wozu verkomplizieren, was man für ein paar Mil-Réis so einfach haben konnte?
    Doch jetzt – war das zu fassen! – verstieß Max gegen all seine Vorsätze. Wie alle anderen war auch er eine Geisel seiner Leidenschaft, war in die Falle getappt, aus der seit dem Hohelied Salomons niemand heil herausgekommen war. Wer hätte gedacht, dass sein Dienst am Vaterland so ausarten würde? Ach, die Liebe! Wie viele sogenannte irrationale Wesen erliegen dieser Illusion, die vorgibt, das menschliche Geschlecht zu erhalten und zu zivilisieren, und stattdessen Milliarden ahnungsloser Seelen versklavt?
    * * *
    Schon morgens um acht saß der Schuhmacher in der Israelitischen Bibliothek.
    Aguna . Gebundene Frau. Nach jüdischem Recht endet die Ehe erst mit dem Tod eines der Eheleute oder durch die vom Mann bewilligte Scheidung. Die Frau wird zur Aguna , wenn der Mann sie verlässt, verschollen ist oder sich weigert, in die Scheidung einzuwilligen. Die Agunot – Mehrzahl von Aguna – gelten als verheiratet und können daher keine neue Ehe eingehen. Falls sie es doch tun, gelten sie als Ehebrecherinnen und ihre Kinder als unehelich.
    Quelle: Wörterbuch der Israelitischen Bibliothek
    Punkt zwölf Uhr mittags. Max hatte im Bad ein Stück Seife aufgebraucht, sich rasiert, die Zähne geputzt und das Gesicht parfümiert, und des weiteren einen Blick auf seine Kleidung geworfen: schwarze Hose, weißes Hemd und eine karierte Filzmütze. Er schickte seinen Assistenten nach Hause, setzte ein Lächeln auf und stand mit zittrigen Händen und unruhig atmend hinterm Tresen: Warum war Hannah eine Aguna ?
    Nachdem er sie sich so lange ausgemalt hatte, fürchtete er sich jetzt vor der Wahrheit. War er überhaupt bereit, sie kennenzulernen? Vielleicht war es besser, ein Treffen hinauszuschieben und das Bild von ihr zu bewahren? Nein, die Realität hatte noch nie Erbarmen mit den Verliebten gehabt. Träume sind nur dann Träume, solange man sie träumt. Er musste an seine Großeltern denken, die in Erwartung des Messias Fenster und Türen offen hielten. Bei jedem verdächtigen Geräusch rannte Rebekka ins Wohnzimmer, aber dann war es doch nur Shlomo, der dasWiedersehen mit den Toten probte. Sie glaubten tatsächlich an die Auferstehung, an Paradiesgärten und Ähnliches. Ja, waren sie denn noch bei Trost? Damals empfand Max weder Verwirrung noch Gewissensbisse oder Sehnsüchte, derentwegen er einen Messias gebraucht hätte. Alles keimte, spross, erwachte. Was nicht existierte, war nicht wichtig. Jetzt jedoch, dreißig Jahre später, unterschied er sich kaum mehr von seinen Großeltern, wenn er Hannah zu seiner messianischen Göttin machte. Warum verhielt er sich so? War es die jahrtausendalte Tradition, das geistige Erbe oder nur eine von Hollywood verbreitete Plattitüde? Was war die Liebe aus Filmen, Liedern und Romanen anderes als ein Mythos von der Erlösung?
    Max biss die Zähne zusammen, er empfand eine Mischung aus Angst und Mut. Fromme Menschen verspürten auf dem Totenbett wahrscheinlich dasselbe: und jetzt? Würde sich ihre Vorstellung von einer anderen Welt bestätigen oder würden sie mit einem Schlag ausgelöscht? Wie vielen von ihnen würde es gelingen, sich im Moment des Todes die Gewissheit zu bewahren, ohne auch nur einen Funken Zweifel? Bei Max war es kein Funke. Es waren lodernde Flammen!
    Und wenn Hannah gar nicht Hannah war, wenn alles eine Farce war, ein Irrweg, und sie womöglich ein Mann? Warum war sie nach Brasilien gekommen, wo arbeitete sie? Ihre Füße waren groß – und alles andere als zart. Sie trug argentinische Tanzschuhe, mitSeide gefüttert. Und sonst? Max hatte die halbe Nacht damit verbracht, die Absätze zu reparieren, das schwarze Leder mit Seife zu bepinseln und das Seidenfutter auszubessern. Er hatte sie geputzt, bis es hell wurde. Die Stadt schlief noch, während er den Müll wegräumte und die Werkstatt so weit wie möglich auf Vordermann brachte.
    Er bekam Hunger und aß einen Apfel. Es wurde Nachmittag. Vier, fünf, halb sechs. Mit strengen Schlägen maß die Uhr die Zeit ab. Tick-tack, tick-tack. Kuckucke, Pendel, Kalender. Wozu? Das Leben ist ein Fluss, das wirklich Wichtige kennt keine Uhrzeit. Man lebt, man stirbt, man liebt jeden Moment. Genau genommen hatte Max gar nicht so sehr auf das bevorstehende Glück gewartet. Er würde viel länger warten, sollte der liebe Gott ihm nicht seine Qualen verkürzen. Tick-tack. Wann käme Hannah, bei einem Tick

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