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Hannahs Briefe

Hannahs Briefe

Titel: Hannahs Briefe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronaldo Wrobel
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oder einem Tack? Und die Welt, wann war sie entstanden, bei diesem oder jenem? Aus wie vielen Ticks bestand ein Leben? Und der Tod? In welchem Moment entscheidet sich ein Schicksal, wann schlägt es zu? Bei Tick oder bei Tack? Die Zeit war ein Schiff ohne Führer, ein unanfechtbares Urteil.
    »Guten Tag.«
    * * *
    Der kleine Teufel bat den Vater, ihm beizubringen, wie man Böses tut. Der Vater antwortete: »Du bist noch ein Kind. Fang mit kleinen Bosheiten an.«
    Der Junge geiferte: »Was für welche? Was für welche?«
    »Hindere die Menschen daran, ihre Träume zu verwirklichen.«
    »Das ist alles?«, fragte der Junge enttäuscht.
    »Immer mit der Ruhe! Du wirst später noch Böseres tun.«
    Das Teufelchen tat, wie sein Vater ihm geheißen. Wer heiraten wollte, heiratete nicht, wer verreisen wollte, verreiste nicht. Jahre später kam der Vater und gratulierte ihm.
    »Du bist jetzt volljährig und darfst wirklich Böses tun, die allergemeinsten Teufeleien.«
    »Was für welche? Was für welche?«
    »Hilf den Menschen, ihre Träume zu verwirklichen.«
    Hannah war wunderschön, unglaublich schön. Mehr als schön, sie war vollkommen. Ein Meisterwerk, eine Laune Gottes, seine auserwählte Tochter. Groß, schlank, elegant. Was für eine Frau! Grünliche Augen, rosige Haut, strahlend weiße Zähne. Hannah war mehr als vollkommen, sie war, sie war …
    »Die da vorn, bitte, Senhor …«
    Sie zeigte auf das Regal hinter ihm. An ihrem Ringfinger prangte ein Ehering.
    »Kutner«, stammelte er. »Max Kutner.«
    Etwas überrascht wich sie zurück. Sie sprach ein deutliches Jiddisch, mit lieblicher Stimme.
    »Kutner? Die da vorn, Senhor Kutner.«
    Ihr volles braunes Haar fiel ihr in goldenen Löckchen auf die Schultern. Und diese Lippen. Wie diese Lippen beschreiben?
    »Die dort, die schwarzen.«
    Sie trug ein gelbes Kleid mit weißem Kragen und Manschetten. Die Fingernägel waren blassrosa.
    »Ist alles in Ordnung, Senhor Kutner?«
    Max reichte ihr die Schuhe.
    Sie warf einen Blick auf die Absätze und sagte: »Sehr schön! Ich dachte schon, da ließe sich nichts mehr machen, vielen Dank!«
    »Nichts zu danken.« Max räusperte sich. »Freut mich, dass Sie zufrieden sind.«
    »Sind Sie auch aus Polen?«
    »Aus Kattowitz, in Galizien.«
    »Ich bin in Bircza geboren.«
    »An der Grenze zur Ukraine?«
    »Genau.«
    Hannah wartete höflich, während der Schuhmacher die Bezahlung mit Fragen und Kommentaren zur Vergangenheit hinauszögerte.
    »Mein Vater war sehr religiös, er half dem Rabbi in der Synagoge. Sind Sie verheiratet?«
    »Junggeselle.« Max lächelte.
    Hannah zückte ihr Portemonnaie.
    »Was macht das?«
    »Zehn Mil-Réis. Seit wann sind Sie in Brasilien?«
    »Seit acht Jahren. Oder neun? Ich weiß es nicht mehr genau …«
    »Gefällt es Ihnen hier?«
    Hannah zählte die Scheine.
    »Ob es mir hier gefällt?« Sie dachte nach. »Sagen wir so: Es fiele mir schwer, Brasilien zu mögen, wenn es leicht wäre, einen anderen Ort zu mögen.«
    »Ja, ich weiß, es ist nicht einfach …«
    »Nein, ist es wirklich nicht.« Sie steckte das Portemonnaie ein. »Was soll man von einer Welt erwarten, in der Carmen Miranda keine Brasilianerin, Hitler kein Deutscher und Stalin kein Russe ist?«
    Sie lachten.
    »Wirklich gute Arbeit, Senhor Kutner. Hier, bitte.«
    Max hätte gern noch weiter geplaudert, aber Hannah hatte es eilig. Mit Bedauern nahm er das Geld entgegen.
    »Beehren Sie mich wieder!«
    »Das werde ich, danke«, sagte sie und steckte die Schuhe in einen Beutel.
    »Ich bringe Ihnen die Schuhe auch gern nach Hause.«
    »Das ist nicht nötig.« Hannah schenkte ihm ein letztes Lächeln. »Schalom, Senhor Kutner!«
    Und dann war sie weg.
    Max konnte sich nicht beherrschen. Kaum war sie um die Ecke gebogen, sprang er über den Ladentisch und folgte ihr auf die belebte Praça Onze. Er wich Autos aus, erschreckte Passanten und stolperte über Hunde, versteckte sich hinter Bäumen und Straßenlaternen, bis er irgendwann auf dem Trittbrett einer Straßenbahn nach Estácio hing. Hannah saß auf der vordersten Bank, ließ sich vom Fahrtwind streicheln und achtetenicht auf ihren Verehrer, der, an eine schmierige Stange geklammert, in seiner Tasche nach Fahrgeld suchte. Die Bahn schaukelte hin und her, bremste abrupt ab, Leute stiegen ein und aus. Hannah rührte sich kaum, ihre Haare flatterten im Wind.
    In Rio Comprido an der Praça Estrela sprang sie ab. Sie überquerte die Straße, sah sich an einem Kiosk die Zeitungen an, lächelte

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