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Hannahs Briefe

Hannahs Briefe

Titel: Hannahs Briefe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronaldo Wrobel
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Hirsch, Moisesville oder so ähnlich. Aber dort gefiel es ihnen nicht,also zogen sie in die Stadt. In welche? Keine Ahnung! Sie wurden reich und luden Guita ein, zu ihnen zu kommen. Guita fuhr hin und lernte einen argentinischen Juden kennen. Jayme. Und das war’s. Was? Ah, ja, gehen wir, ich bin auch spät dran.«
    Bevor Fany auf der Praça Tiradentes in die Straßenbahn nach Rio Comprido stieg, hielt sie Max’ Hand fest und erklärte mit eindringlicher Stimme:
    »Meine Geschichte ist auch interessant, Senhor Kutner. Sehr interessant sogar! Wann wollen Sie sie hören?«
    »Eines Tages, Dona Fany. Eines Tages.«
    Fany ließ ihn los und stieg ein. Aber an der nächsten Station stieg sie wieder aus und fuhr zurück zur Rua da Carioca. In der Bar Luiz aß sie drei weitere Stück Apfelkuchen und verzichtete nur auf ein viertes, weil ihr türkisfarbenes Kleid bereits zu platzen drohte.
    * * *
    Die Kinder im Gelben Haus waren alles andere als naiv. Als ein Mädchen fragte, warum es keine Schuhmacherinnen gebe, musste Max (der noch nie darüber nachgedacht hatte) improvisieren.
    »Nun ja … es ist eine schmutzige und schwierige Arbeit …«
    »Nur deswegen?«, bohrte das Mädchen nach, die Hände in die Hüften gestemmt.
    »Man kann sich leicht verletzen, es riecht teilweise sehr unangenehm …«
    »Na und, genau wie bei der Arbeit von unseren Müttern!«
    Max war sprachlos.
    Hannah sagte: »Machen Sie sich nichts draus, Max. Hier ist alles etwas anders.«
    Im Hof standen mehrere Schaukelpferdchen und ein Karussell. Ein Junge kam auf sie zugerannt.
    »Tante Hannah, wann kommt meine Mama wieder?«
    Sie nahm den Jungen auf den Schoß.
    »Sie hat gesagt, du sollst schön auf sie warten und ein braver Junge sein.« Dann brachte sie ihn zum Karussell.
    »Seine Mutter ist verschwunden. Niemand weiß, ob sie noch lebt«, erklärte sie, als sie wiederkam.
    »Und der Vater?«
    »Danach fragt man hier nicht, Max.« Sie zündete sich eine Zigarette an. »Kommen Sie mit.«
    Das Haus war gut in Schuss. Es hatte einem reichen Gutsherrn gehört, bevor die Kaffeepreise auf dem internationalen Markt rapide gesunken waren. Das Altenheim lag im ersten Stock. Die alten Damen und Mütterchen fingen an, in den Büchern zu blättern, die der Schuhmacher verteilte. Manche spielten Karten, andere plauderten. Auf der Veranda spielte ein Mann Mundharmonika für ein paar Katzen, die sich schläfrig zusammenrollten. In einem großen Zimmer lagen mehrere alte Frauen regungslos in ihren Betten. Beth strich Max sehnsüchtig über den Arm, Rachel fragte, ob er verheiratet sei. Hannah ging von Bett zu Bett undhörte sich Beschwerden, Bitten und Kommentare an. Dann sprach sie mit den Krankenschwestern, schimpfte mit der einen oder der anderen und wies sie auf die schmutzige Bettwäsche hin. Sie war eine stolze und besonnene Königin, wild umkämpft von ihren Untertaninnen. Sie beruhigte die einen, sprach anderen Mut zu, ließ sich Vertrauliches berichten und die Umstehenden eifersüchtig zusehen. Max fragte sich, welche Rolle er in alldem spielen sollte. Hannah ändern oder womöglich retten zu wollen erschien ihm lächerlich: Sie war die eigentliche Erlöserin. Sie kam sehr gut allein zurecht – weder fehlte es ihr an etwas, noch gab sie sich Exzessen hin. Wenn er sie erobern wollte, würde Max sich auf die Taktik der Entbehrlichen verlassen müssen: Er musste ihr gefallen.
    Zwei Straßen weiter befanden sich die Unterkünfte der Kolleginnen, die Miete an Hannah zahlten, feste Regeln hatten und keinen Männerbesuch empfangen durften. Sie machte gelegentliche Kontrollgänge, wenn nötig auch mitten in der Nacht, und wer sich nicht daran hielt, flog raus. Manchmal traf sie umstrittene Entscheidungen, wie zum Beispiel, nichtjüdische Prostituierte aufzunehmen, Geld zu verleihen oder Mieten neu zu verhandeln. Natürlich hatte sie auch Feinde, die sie beschimpften und verfluchten. »Wer hat die nicht?«, meinte Hannah gleichgültig, während sie Max den Gemüsegarten und die Blumenbeete zeigte. Die Häuser sahen völlig unauffällig aus, sie waren weiß und ordentlich und hatten kleine Balkone und eine Mesusa am Türpfosten. Eine der Frauenbrachte ihnen Kaffee und Kuchen, und danach gingen sie zum Kiosk Zigaretten kaufen. Als Hannah sich die erste anzündete, kam eine Krankenschwester aus dem Gelben Haus angelaufen und rief:
    »Dona Fany hat angerufen! Josef ist tot!«
    * * *
    Nach einer Stunde Fahrt wurde das Boot langsamer. Halbnackte Kinder liefen auf den

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