Hannahs Briefe
an den Strand. Wie sollte man diese wunderbaren weißen Beine beschreiben, die sich im Sand räkelten, auf der Haut das Salz des Atlantiks, in dem zu schwimmen Max vorgab, um seine Erregung zu verbergen?
Hannah fiel auch durch ihre Kleidung auf. Ein schlichtes Kleid, ein plissierter Rock, selbst Hosen standen ihr gut, ganz zu schweigen von Schuhen, Taschen und Hüten in verschiedenen Durchmessernund Stilen. Sie konnte alles tragen. Einen Tag erschien sie aufgeplustert und geblümt, am nächsten in einem züchtigen Tailleur. Sie aß nur wenig, trank mäßig und rauchte zu viel. Mit Hannah umzugehen erforderte ein gewisses Feingefühl. Ein falsches Wort oder eine unangemessene Geste wurden schnell mit einem eisigen Blick quittiert oder führten zu Streit. Max kam sich vor wie ein ungeschickter Spieler, der bei einem imaginären Spiel Punkte gewann oder verlor, weil er den richtigen Wein ausgewählt oder den falschen Witz erzählt hatte. Es war unmöglich, die Regeln des Spiels zu verstehen oder den nächsten Zug vorauszusehen.
Sie spazierten an der Praia do Flamengo entlang, es war nachmittags, die Wellen hatten den Sand verschluckt und die Straße unter Wasser gesetzt. Unter einem Vordach drängten sich die Menschen und bestaunten die Brandung.
»Ein schönes Land«, seufzte Hannah. »Aber nicht unseres. Wir müssen in Ordnung bringen, was die Römer vor zweitausend Jahren angerichtet haben.«
Max kratzte sich am Kinn.
»Ich glaube kaum, dass die Engländer uns Palästina geben.«
»Die Engländer erkennen unsere Rechte an.«
»Aber die Araber erkennen überhaupt nichts an. Wir hätten uns mit Uganda begnügen sollen.«
Natürlich wollte Max sie nur beeindrucken, indem er die Käseblätter von der Praça Onze zitierte. Warum vergaßen sie nicht einfach den Zionismus und denRest der Welt, zogen nach Paquetá und beerdigten Papageien.
Aber Hannah ließ nicht locker: »Gott hat uns weder Uganda noch Brasilien versprochen. Er hat uns Israel versprochen.«
Max erwiderte: »Ich verdiene hier mein Geld und lebe in Frieden. Was soll ich in Tel Aviv oder Jerusalem?«
»In Ihrem Fall kann ich das nicht sagen. Was mich betrifft …« Sie wurde ernst. »Um einen Staat zu errichten, braucht man Kriegerinnen, falls Sie verstehen, was ich meine.«
Der Schuhmacher zuckte zusammen. Herr im Himmel! Hannah hatte doch nicht etwa vor, im Heiligen Land Bordelle zu errichten?
»Und jetzt gehe ich ins Wasser.« Sie zog die Schuhe und eine leichte Strickjacke aus, gab Max ihre Tasche und wollte schon die Straße überqueren, als er hinter ihr hergelaufen kam.
»Sind Sie verrückt?«
Die Wellen schlugen gegen die Steinmauern. Sie lachte.
»Das war ich schon immer!«, rief sie und lief weiter in Richtung Brandung.
»Wir müssen hier weg, um Himmels willen!«
»Nein! Ich bleibe!«
»Hören Sie auf damit! Das ist gefährlich, Kommen Sie, kom…«
In diesem Augenblick wurden sie beide von einem Strudel erfasst, der den Schuhmacher quer über dieStraße bis vor die Füße der Zuschauer mitriss. Dieselben Hände, die ihn hochhoben, zeigten jetzt auf Hannah, die mit nassem Haar fröhlich auf der Mauer entlanghüpfte. Diese Frau war verrückt. Unter dem durchnässten Kleid zeichnete sich ihr nackter Körper ab, die festen Brüste und das Geschlecht, das sich unter ihrem Höschen andeutete. Sie brach in Gelächter aus, als sie Max klitschnass dastehen sah und er sie anflehte:
»Heirate mich! Wie viel willst du? Ich zahle so viel, wie du willst!«
»Ausgeschlossen!«
»Wie viel willst du? Sag schon!«
Hannah sprang von der Mauer.
»Wir sind Freunde, sonst nichts. Schluss jetzt, gehen wir.«
Max keuchte: »Liebst du jemanden?«
Hannah wrang sich die Haare aus.
»Ich kann niemanden lieben, weil ich eine Hure bin.«
»Oder bist du eine Hure, weil du niemanden lieben kannst?«
Sie blieb stehen.
»Ich werde darüber nachdenken«, sagte sie und gab ihm einen Kuss auf die Stirn.
Max fragte sich, ob er der romantische Held war, dessen Aufgabe darin bestand, sie vor sich selbst zu retten, oder eine Marionette in einem perversen Spiel. Er hätte weinen können. Seine Bewunderung für Hannah setzte ihn derart unter Druck, dass er zuGott betete, er möge ihn von dieser Qual erlösen. Selbst mit einer schrecklichen Enttäuschung würde er leben können, solange sie denn ihre Wirkung tat. Lieber ein Ende mit Schmerzen als ein Schmerz ohne Ende.
Zwei Tage später sollte Gott ihn erhören.
* * *
Max war nicht zufällig zur Welt
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