Hannahs Briefe
schob Max das Thema hinaus, das ihn beschäftigte. Sie aßen Roastbeef mit Kartoffeln, und Fany tupfte sich ständig mit der Serviette ab, damit ihr Lippenstift nicht verschmierte und sie nicht mit vollem Mund redete. Sie unterhielten sich so angeregt und ausgelassen, dass Fany sich sicher war, er flirte mit ihr. Ihr entging kein Detail an ihm, die Fingernägel zum Beispiel oder die unordentlich geknotete Krawatte. Um ihr Gespräch nicht abreißen zu lassen,unterdrückte sie das Bedürfnis zu pinkeln, und als er schließlich auf die Toilette ging, rieb sie sich schnell ein paar Tropfen Shalimar hinters Ohr. Fünf Biere und zwei Stunden später verschränkte Max entschlossen die Hände. Wo anfangen?
Er räusperte sich.
»Kann ich Ihnen vertrauen?«
Fany wurde rot.
»Also … ich glaube schon.«
»Wirklich?«
Sie zerknüllte die Serviette in ihren Händen.
»Ganz bestimmt, Senhor Kutner, das können Sie.«
»Sind Sie Freundinnen?«
Fany antwortete nicht gleich. Gefasst sah sie den Schuhmacher an, jetzt war es Schamesröte, die ihr vor lauter Enttäuschung ins Gesicht stieg. Es hätte ruhig noch eine Weile dauern können, bis sie das Unvermeidliche und so Offensichtliche begriff. Ein wenig misstrauisch war sie gewesen und deswegen auch nicht wirklich überrascht, dennoch befiel sie eine große Traurigkeit, noch bevor Max die Frage zu Ende gestellt hatte. Das Bedürfnis zu pinkeln war inzwischen unerträglich geworden. Zunächst war Fany so frei, ihm den Krawattenknoten zu richten. Dann stand sie mit wackligen Knien und ohne eine Erklärung auf.
Zurück von der Toilette sagte sie: »Freundinnen? Mehr als das. Ich verdanke Hannah mein Leben.«
»Ihr Leben?«
»Hannah hat mich vor der Hölle bewahrt. Heute bin ich ihre Assistentin.«
»Hat sie immer schon … in diesem Beruf gearbeitet?«
Fany nippte an ihrem Bier, sie war das Thema leid.
»Hannahs Geschichte ist eine andere, Senhor Kutner. Sie wurde nicht verführt und betrogen wie wir anderen. Sie kommt weder aus dem Schtetl, noch ist sie auf die Heiratstour reingefallen. Sie lebte mit einem mächtigen Mann zusammen, Artur Kelevski, ich weiß nicht, ob Sie schon mal von ihm gehört haben, ein Zuhälter ersten Ranges. Sie haben sich in Polen kennengelernt, Kelevski war hoffnungslos in Hannah verliebt. Hoff-nungs-los! Glauben Sie mir, Senhor Kutner, er ist vor Liebe gestorben, wirklich!«
»Wie meinen Sie das?«
»Artur Kelevski hatte Frauenhandel im großen Stil betrieben, wenn Sie verstehen, und zwar weltweit. Aber wie Sie wahrscheinlich wissen, hat die Zwi Migdal sich praktisch aufgelöst, danach herrschte erst mal großes Chaos, und jeder war auf sich selbst gestellt. Kelevski war noch ein reicher Mann, als er mit Hannah nach Brasilien kam. Das war … ich weiß nicht. Vor zehn Jahren? Weniger, Gétulio Vargas war da schon an der Macht. Na ja, egal. Sie wohnten in einem Haus in Botafogo, soll wunderschön gewesen sein. Ich bin nie dort gewesen. Kelevski hatte vier Bordelle in Rio und zwei im Landesinneren, außerdem diverse Geschäfte und ein paar Häuser, die er vermietete. Mit Sicherheit ein kluger Mann. Hannah lebte wie eine Prinzessin. Ihre Kleider kamen vom Schneider, sie trug die besten Parfüms, maßgefertigte Hüte und gingständig in der Rua do Ouvidor oder im Park Royal einkaufen. Sie hatte als eine der ersten Frauen in Rio einen eigenen Wagen! Aber Kelevski war sehr eifersüchtig, niemand durfte ihr zu nahe kommen. Er wollte Hannah für sich ganz allein. Im Sommer verreisten sie, weil er die Hitze nicht ertrug und Probleme mit dem Herzen hatte. Sie fuhren immer nach Teresópolis. Vor allem aber war Kelevski ein Krimineller. Jeder wusste, dass er jederzeit verhaftet oder aus Brasilien ausgewiesen werden konnte. Deswegen zahlte er der Polizei sehr, sehr viel Geld. Ich nenne lieber keine Namen, Senhor Kutner! Eines Tages gab es jedoch ein Problem. Irgendein hohes Tier bei der Polizei, ein Kommissar oder so, ging zu Kelevski und drohte, zwanzig seiner Polackinnen ausweisen zu lassen, weil ihre Pässe nicht mehr gültig waren. Der Mann wollte Geld, sehr viel Geld. Oj wej, ein Vermögen! So viel, dass Kelevski ganz elend wurde. Also kam Hannah ihm zu Hilfe.«
Max bestellte noch ein Bier für sie.
»Als der Kommissar Hannah sah, sagte er: ›Ich will diese Frau!‹ Kelevski antwortete, auf keinen Fall, das komme nicht in Frage. Er könne alles fordern, mehr Geld, hundert Frauen, wen immer er wolle, von ihm aus auch alle auf einmal, aber nicht
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