Hannahs Briefe
Yam Suph, was auf Hebräisch Schilfmeer bedeutet. Angeblich wurde bei der Übersetzung des Exodus ins Englische aus reed , auf Englisch Schilf, red , rot.«
»Sehen Sie, Senhor Kutner?« Fany hatte eindeutig zu viel getrunken. »Übersetzer können sich auch mal irren!«
Max hätte sich fast verschluckt. Was wollte sie damit andeuten? Soweit er informiert war, hatte niemand hier eine Ahnung, dass er für die Polizei Briefe zensierte. Hatte Fany ihm etwa hinterherspioniert? Wahrscheinlich! Immerhin kam sie dauernd unter irgendeinem Vorwand in seine Werkstatt, um ihm etwas Süßes, kaputte Schuhe oder Nachricht von Hannah zu bringen. Natürlich spionierte Fany ihn aus! Max versuchte, seine Wut herunterzuschlucken, und konzentrierte sich auf die Kinder, die die Pessach-Lieder anstimmten.
Nach dem Essen ergriff Hannah erneut das Wort: »Wir sollten uns daran erinnern, dass wir die Befreiung unseres Volkes dem Mut zweier Frauen zu verdanken haben, der Mutter und der Schwester von Moses. Wer, wenn nicht sie, widersetzte sich dem Pharao und ließ das Baby in einem Korb über den Nil treiben? Auf die Kühnheit dieser Frauen!«
» Le Chaim! «, riefen alle.
Ja, Hannah war eine echte Führernatur – sie besaß Haltung, Gewitztheit, Beharrlichkeit. Und Mut. Einmal bekam im Gelben Haus ein Kind einen Hustenanfall. Hannah nahm es auf den Arm und lief mit ihm in eine Straße, in der die Frauen sich in den Türen und Fenstern von Spelunken anboten wie Trockenfleisch. Das war der Mangue, das Rotlichtviertel.
»Wo ist Sheila?«
»Bei einem Freier«, antwortete eine Rothaarige.
Sie warteten auf einem muffigen Sofa im Vorzimmer, Hannah mit dem Kind auf dem Schoß. Die Decke bebte und schien kurz davor einzustürzen, mit solcher Inbrunst ging es über ihnen zur Sache. Irgendwann erschien Sheila in ein Handtuch gewickelt, mit Latschen und zerzaustem Haar. Sie war völlig zugedröhnt, betrunken oder unter Drogen, jedenfalls zu weggetreten, um zu verstehen, was los war. Hannah verpasste ihr eine Ohrfeige.
»Deinem Sohn geht es schlecht, und die einzige Medizin, die er braucht, bist du, Kurwa . Komm jetztmit, bevor er noch stirbt.« Sie packte die Frau und zerrte sie hinter sich her.
Als strenge Herrscherin wachte Hannah sorgfältig über ihr Image. Vertraulichkeiten oder Blamagen konnte sie sich nicht erlauben, sich an einer Schulter ausweinen oder in der Öffentlichkeit Schwäche zeigen kam nicht in Frage. Zwischen Hannah und der Welt lag eine Membran – oder war es ein Graben? Der einzige Mensch, bei dem sie Nähe zuließ, war ihre Schwester.
»Guita ist eitel, fröhlich und intelligent. Und sie liebt mich abgöttisch!«
»Nicht nur sie«, bemerkte Max.
Sie gingen in der Rua Uruguaiana einen Saft trinken, behängt mit Taschen und Paketen. Während Hannah an ihrem Strohhalm nuckelte, machte er sich Gedanken über das Verhältnis der beiden. Noch stärker als die Liebe zu ihrer Schwester war die Liebe zu sich selbst, die Hannah erst durch ihre Schwester empfand. All ihre Vorzüge waren ohne Guitas Wertschätzung nur die Hälfte wert. Die beiden ergänzten sich in fast allem, und den anderen Beteiligten blieben nur die Nebenrollen, so wie es ihnen gerade in den Kram passte. Hannah konnte niemanden lieben und würde es auch nie können, außer Guita – und folglich auch sich selbst. Guita war Hannahs Hannah.
»Ich würde lieber sterben, als Guita weh zu tun. Oh, Gott, wenn sie wüsste …«
»Wenn sie was wüsste?«, bluffte Max.
»Sie glaubt, ich sei eine anständige Frau. Sie denkt, dass ich verheiratet bin und religiös.«
»Haben Sie nie daran gedacht, ihr die Wahrheit zu sagen?«
»Natürlich nicht! Vorher kann meinetwegen die Welt untergehen. Guita braucht mich als gutes Beispiel, sie braucht meine Ratschläge, und ich brauche ihre Liebe. Ohne Guita bin ich niemand.«
Sie hatten sich seit zehn Jahren nicht gesehen.
»Warum besuchen Sie sich nicht?«
Hannah zündete sich eine Zigarette an.
»Guita will mit ihrem Mann nach Brasilien kommen. Das ist wunderbar, aber … Oj! Ich habe Angst, solche Angst. Wie soll ich ihnen gegenübertreten? Wen soll ich ihnen als meinen Mann vorstellen? Wenn Guita die Wahrheit erfährt, ist das mein Ende. Ich schwöre, ich bringe mich um!«
Das war wirklich der seltsamste Schwur, den er je gehört hatte. Hannah liebte das Leben, die Sonne, den Regen, die Kälte, die Wärme. Sie tanzte in einer einfachen Sambakneipe genauso wie in einem Ballsaal. Sie ging regelmäßig in Copacabana
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