Hannahs Briefe
Pier und sprangen ins Wasser. Ein Einspänner fuhr vor einem Haus vorbei, aus dem zwei schwarze Frauen mit Bündeln auf den Köpfen kamen. Max war noch nie auf der Ilha de Paquetá gewesen. Wozu sich in den abgelegensten Winkeln der Baía de Guanabara verirren? Auch jetzt hatte er keine Ahnung, wo sie waren. Neben ihm saß Hannah, auf dem Schoß einen Schuhkarton, in dem der tote Papagei lag. Sie sah blass aus und war offenbar nicht in der Stimmung, den Zweck dieser seltsamen Reise zu erklären.
Nachdem sie an einem kleinen Anleger festgemacht hatten, stellte Max fest, dass es auf der Insel ähnlich aussah wie im Landesinneren, die Häuser waren ländlich schlicht, und die Menschen liefen barfuß. Es gab keine Autos, nur Kutschen, Pferde und Fahrräder. Mit dem Schuhkarton in den Händen marschierte Hannah los in Richtung Süden. Sie liefen über staubige Wege, und Hannah dankte den Vorbeigehenden, die als Zeichen der Anteilnahme die Hüte zogen. Sie bogen rechts ab, umrundeten einen kleinen Platz, überquerteneine steinige Gasse, bis Hannah schließlich eine Anhöhe hinaufstieg und Max an einem Torbogen ein Schild entdeckte: Vogelfriedhof.
Oj wej, das konnte nicht wahr sein! Überall lagen kleine Grabsteine, unter denen Kolibris, Kakadus, Eulen und alles, was fliegen konnte und Federn hatte, ruhten. Hannah rief nach einem Jungen, der schlafend mit einem Spaten in der Hand in der Ecke lag. Der Junge – ein Vogeltotengräber? – gähnte, suchte nach einem geeigneten Plätzchen und fing an zu graben. Hannah sah wunderschön aus, so bescheiden in ihrer Trauer, wie sie die Zeremonie verfolgte, bis sie sich am Ende hinhockte und den kleinen Sarg in das Loch legte. Sie sprach ein Gebet, fuhr sanft mit der Hand über den Karton und ließ den Jungen seine Arbeit beenden. Max verhielt sich so unauffällig wie möglich. Er hätte sich nie vorstellen können, einen Papagei zu beerdigen – einen Papagei namens Josef. Hannah war ein Garten voller Überraschungen im ewigen Frühling.
Was konnte er von ihr erwarten? Leidenschaft, Freundschaft, gemeinsam verbrachte Stunden? Sie allein für sich zu haben, davon brauchte er gar nicht erst zu träumen. Auf der Rückfahrt war Max in Gedanken versunken. Er wollte sie und ihre Geschichte verstehen: was sie bewegt hatte, mit welchen Herausforderungen sie konfrontiert worden war, welche Entbehrungen sie erlitten hatte. In den Sprüchen der Väter hieß es, ohne Wissen gebe es kein Verständnis und ohne Verständnis kein Wissen. Der alte Shlomohingegen hatte immer gesagt, man dürfe einen Mann nicht danach beurteilen, was er ist, sondern danach, was er sein möchte – und nach den möglichen Gründen, warum er es nicht ist. Aber wer kann wirklich einen anderen beurteilen? Wer kann verstehen, warum jemand ist, was er ist, und gleichzeitig, warum er nicht ist, was er hätte sein können? Die wenigsten können überhaupt nur verstehen, was der andere letztendlich geworden ist (und das nicht selten auch nur ihrer Meinung nach). Das größte Paradox liegt im Übrigen darin, dass, wenn der Mensch nicht danach streben würde zu sein, was er letzten Endes nicht ist, er am Ende zu dem würde, was er nicht ist.
Hannah erzählte ihm, Josef sei ein Geschenk ihres ersten Mannes gewesen, zu ihrem fünften Hochzeitstag. Mehr sagte sie nicht. Auf der anderen Seite der Baía de Guanabara funkelte die Stadt wie eine Weihnachtskrippe. Die Nacht brach herein über diese seltsame Welt, in der Papageien beerdigt wurden und Menschen wie Tote vor sich hin lebten.
* * *
Inzwischen kannten sie sich schon seit Monaten, und Max hatte die Rolle des geschlechtslosen Freundes und Ratgebers übernommen, der ihre Einkaufstaschen schleppte, sich ihre Ideen anhörte, ihr Schweigen ertrug, und dabei, ganz langsam und unbemerkt, systematisch ihr Herz erobern wollte. Um interessanten Gesprächsstoff zu haben, las er vor jedem TreffenBücher und Zeitungen. Er hatte seinen Kleiderschrank erneuert und sich extra für sie ein Telefon angeschafft. Schon beim ersten Telefonat hatte Hannah ihn zum Pessachfest ins Gelbe Haus eingeladen.
In der Woche darauf wurde der Sederabend begangen. Frauen aller Altersgruppen, einige wenige Männer und viele Kinder gedachten der Sklaverei in Ägypten, erwähnten die zehn Plagen und die Überquerung des Roten Meeres. Während sie Wein tranken, stellte Hannah eine Frage:
»Wusstet ihr, dass es in der Thora nicht das Rote Meer heißt? Das Meer, das sich vor unserem Volk geöffnet hat, hieß
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