Hannahs Briefe
sich an seine Vorgesetzten zu wenden? Und wenn Hannahs Birnen gar keine Birnen waren? Und das zerbrochene Parfüm und die Sumpfblumen tatsächlich Geheimcodes?
Der Leutnant und seine Männer kehrten lachend zurück.
»Nur ein Schreckschuss, um jemandem ein Geständnis zu entlocken.«
Max starrte die drei an.
»Gibt es ein Problem, Senhor Kutner?«
Er räusperte sich.
»Ich bin nur durstig, haben Sie ein Glas Wasser?«
Als er aus der Wache trat, war es draußen hell. Er hatte diverse Briefe und Zeitungsartikel übersetzt, und die Männer hatten fleißig mitgeschrieben. Was würden sie damit anfangen? Max lief zur nächsten Straßenecke,zog eine Adresse aus der Brieftasche und rief ein Taxi. Er stieg vor einem Haus in der Rua André Cavalcanti aus und klingelte. Er küsste die Mesusa, rieb sich die kalten Hände und begrüßte Dona Ethel, die jetzt in Nachthemd und Filzpantoffeln vor ihm stand.
» Kol Jisrael arevim zeh bazeh «, sagte er. »Ich habe Arbeit für Ihre Meraglim .«
Nach seinem Besuch war er fürs Erste erleichtert. Er freute sich, tun und lassen zu dürfen, was er wollte. Jeder seiner Schritte war Teil dieser Welt und machte sie aus. Er lief durch die Rua do Riachuelo, durch die Rua dos Inválidos und dann wieder zurück in die Rua do Riachuelo. Völlig unbekümmert lief er durch die Straßen und erfreute sich an den morgendlichen Ritualen in den Bäckereien, den Lebensmittelgeschäften, den Straßenbahnen, am Kaffeeduft und an den Bohemiens, die es um diese Uhrzeit nach Hause spülte. Hier war die Welt noch in Ordnung, so einfach und funktional, dass die Menschen es gar nicht merkten. Ach, welch ein Paradox, dass wir erst einen Spiegel brauchen, um die eigenen Augen zu erkennen, wo wir mit ihnen doch alles andere sehen. Erst im Kerker versteht man, was Freiheit bedeutet!
Auf dem Weg durch die Rua da Relação wurde ihm bewusst, was ihm als Nächstes bevorstand. Wie sollte er Hannah die Sache mit der Postkarte erklären, die ihm zu diesem Zeitpunkt schwer im Magen lag?
* * *
Einen anonymen Brief unter der Tür durchschieben? Eine Vertrauensperson schicken? Oder einfach den Mund halten und alles vergessen? Was wäre, wenn er allen Mut zusammennahm und ihr die Wahrheit gestand? Wie würde Hannah reagieren, wenn sie erfuhr, dass er mit der Polizei zusammenarbeitete? Womöglich würde sie ihn für immer hassen, vielleicht hatte sie aber auch Verständnis oder würde ihn sogar bewundern, warum nicht? Prostituierte und Polizisten hatten meist ihre Übereinkünfte, ihre kleinen Arrangements. Wer weiß, vielleicht konnte Max seinen Nutzen aus der Situation ziehen und Hannah für sich gewinnen. Wer eine entsprechende Position bekleidete, machte sich gern mit kleinen Gefälligkeiten beliebt. Oder aber die Wahrheit würde ein für alle Mal den Boden versalzen, auf dem der Schuhmacher diese unmögliche Liebe eines Tages wachsen lassen wollte. Wie auch immer, er konnte nicht die Hände in den Schoß legen und Hannah vergessen. Der Gedanke, in ihren Briefen keine Birnen oder Sumpfblumen mehr zu finden, machte ihn traurig, aber die Gefahr, in der sie schwebte, war alles andere als metaphorisch.
Er richtete sich vor dem Spiegel auf.
»Ich werde ihr noch heute alles erzählen.«
Hannah wollte ihn nachmittags abholen, damit er das Gelbe Haus kennenlernte, das gleichzeitig Altenheim für die Polackinnen war und Kinderkrippe für die Sprösslinge der Kolleginnen. Anlass für den Besuch waren die jiddischen Bücher, die Max dort verteilen würde. Er trug einen elfenbeinfarbenen Leinenanzug,einen Panamahut und zweifarbige Schuhe. Er übte gerade ein paar Gesten vor dem Spiegel, als Fany erschien.
»Hannah kann nicht kommen, sie fühlt sich nicht wohl.«
»Oj wej!«
Max wirkte so niedergeschmettert, dass Fany das Treffen aus lauter Mitleid augenblicklich auf den nächsten Tag verschob. Erleichtert knöpfte er den Kragen auf und nahm den Hut ab, da brachte ihn ein plötzlicher Einfall dazu, ihn wieder aufzusetzen.
»Wie wär’s mit einem Bier?«
Fany strahlte über beide Ohren.
Beim Schuhmacher eingehakt, im engsitzenden türkisfarbenen Kleid, trippelte sie mit ihm über die Praça Onze bis zur Straßenbahn in Richtung Zentrum. Fany gab sich Mühe, einen guten Eindruck zu machen und sich ihre Erregung nicht zu sehr anmerken zu lassen. In der Rua da Carioca setzten sie sich an einen der hinteren Tische der Bar Luiz. Während sie ein erstes Bier tranken und Fany sich vor Aufregung kaum beherrschen konnte,
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