Hannahs Briefe
»Wie waren die Schloschim ? Fany fehlt mir so sehr. Wasser, um Himmels willen.«
Max brachte ihr ein Glas.
»Danke. Der Präsident ist zu Besuch in Petrópolis, du glaubst nicht, was dort los ist.«
Hannahs Haar war zerzaust, sie hatte tiefe Augenringe. Sie wirkte unglaublich erschöpft, ihr Gesicht spiegelte eine ihm unbekannte Verletzlichkeit wider. Max sah Hannah, wie er sie noch nie gesehen hatte, wahrscheinlich waren Diven so, wenn sie allein waren und keine Kraft mehr hatten, sich selbst etwas vorzuspielen. Wer war diese Person, die da zusammengefallen im Sessel lag? Sie kam ihm vor wie eine Geisterstadt, mit Straßen und Häusern, die so staubig waren wie die Genisa in Bircza.
Schluck für Schluck trank sie ihr Wasser, holte zwischendurch Luft und schluchzte leise. Sie konnte jeden Moment in Tränen ausbrechen. Um irgendetwas zu sagen, erwähnte Max, Leutnant Staub habe nach ihr gefragt.
»Wer?« Plötzlich sprang sie vom Sessel auf und schlug sich eine Hand vor die Stirn. » Oj, main Got! Die spanische Botschaft!«
Der Botschafter aus Madrid gab an jenem Abendeinen Empfang, und Hannah sollte einen Militärattaché verführen.
»Kaffee, schnell! Mach mir einen Kaffee!« Sie lief ins Schlafzimmer, zog einen Koffer unter dem Bett hervor und schloss sich im Bad ein. Zehn Minuten später kam sie parfümiert und in einem schwarzen, paillettenbesetzten Seidenkleid mit langem Schlitz wieder heraus. Ihre Schultern waren frei, in den Haaren steckte eine Nelke, und an den Händen trug sie Handschuhe und ein silbernes Täschchen. Wo hatte sie das alles her? Sie sah phantastisch aus, wie verwandelt, die Augen schwarz umrandet und die Lippen von einem grausamen Rot, mit dem sie halb Spanien hätte verführen können. Sie trank zwei Becher Kaffee mit viel Zucker und ein paar gelben Tabletten und machte sich sicheren Schrittes in ihren Stöckelschuhen auf den Weg. Diese Frau war unglaublich! Am nächsten Morgen musste sie Guita im Hotel Glória abholen und mit ihr das Papageiengrab auf der Ilha de Paquetá besuchen. Hannah war mehr als eine Frau, sie war ein ganzer Harem.
Hätte Max doch über all das lachen können, aber stattdessen verspürte er den Drang, sie zu packen, ihr das Kleid vom Körper zu reißen und auf dem Küchenfußboden endlich zur Sache zu kommen. Da ihm nichts anderes übrigblieb, nahm er ihren Kaffeebecher in die Hand, leckte den Lippenstift ab und befriedigte sich selbst. Nachdem er sich gründlich gewaschen hatte, widmete er sich wieder Fanys posthumen Wahrheiten.
Rio, 18. Dezember 1938
Lieber Max,
ich hoffe, es geht Ihnen gut, und Sie sind gesund und in der Stimmung, zu lesen, was ich Ihnen zu sagen habe. Es ist eines dieser Geheimnisse, die das Herz für sich behält. Aber ich liege im Sterben und kann nicht länger warten. Mich bewegen weder Rachegelüste noch sonst irgendwelche kleinlichen Gefühle. Im Gegenteil. Es geht mir überraschend gut in diesem Moment, den jeder eines Tages erleben wird. Ich schreibe Ihnen also in Liebe.
Ich war es, die die Briefe an Guita geschrieben hat. Als Hannahs Sekretärin habe ich mich um ihre gesamte Korrespondenz gekümmert. Briefe, Rechnungen, Dokumente. Hannah hat die Papiere nur unterschrieben, manchmal, ohne sie zu lesen, und mir auch die Briefe ihrer Schwester anvertraut. Wie viele ich beantwortet habe? Hunderte, Tausende. Ich weiß es nicht.
Kurz, Guita stand im Briefwechsel mit mir, nicht mit Hannah. Sie haben also mich übersetzt.
Ist das nicht eigenartig? Ich habe mich nie für attraktiv genug gehalten, in einem Mann mehr als niedere Instinkte zu wecken, obwohl ich mein Leben lang von einem Prinzen geträumt habe, der kurzsichtig genug ist, mich hinter meinem Äußeren zu erkennen. Bis eines Tages, als ich schon nicht mehr damit gerechnet habe, dieser jemand erscheint und mich mit einer anderen verwechselt.
Hannah hat ihre Reize, das ist nicht zu leugnen. Sie ist wunderschön, intelligent, mutig. Aber auch ich habe meine Reize, Max, und in die haben Sie sich verliebt. Ich will nicht lange ausholen. Ich wollte nur ein erstes und ein letztes Mal in meinem Namen einen Brief schreiben. Ich bin müde, und ich muss sterben, aber nicht ohne mich vorher bei Ihnen zu bedanken. Und Ihnen zu sagen, dass viele der Briefe, die Sie so berührt haben, nicht nur von Ihnen inspiriert, sondern tatsächlich an Sie gerichtet waren. Mögen Hannah und Guita uns verzeihen, aber im Grunde waren sie es, die in unser Leben gedrungen sind.
Alles Gute.
Fany
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