Hannahs Briefe
Jeremias.
Die vier ließen sich auf die Stühle sinken, Max saß noch der Schreck in den Gliedern, und er dankte Hannah innerlich für ihre prompte, scharfsinnige Erklärung. Leider ließ Guita nicht locker.
»Ich kann mich gar nicht erinnern, diesen Verrückten in Pinsk gesehen zu haben.«
Hannah legte ihr die Hand auf den Arm.
»Was vorbei ist, ist vorbei.«
Aber für Guita war gar nichts vorbei.
* * *
Erdbeermarmelade, Eiersalat, Wareniki, Hackbraten, Borschtsch, Ölsardinen, vier verschiedene Arten Brot und eine Obstschale. Guita verzog das Gesicht und fragte:
»Habt ihr keine Hühnerleberpastete?«
Max hätte ihr am liebsten einen Kinnhaken verpasst. Hätten sie die Pastete gehabt, hätte sie mit Sicherheitetwas anderes auszusetzen gehabt. Dauernd beschwerte sie sich, so dass selbst Hannah es manchmal leid zu sein schien. Und eingebildet war sie! Guita hielt sich für die beliebteste und meistbeneidete Frau von Buenos Aires, ständig unterwegs auf Cocktailpartys oder in den Ländereien ihres Mannes. Es war ein Leben voller Glamour, wie in einem Musical von Metro-Goldwyn-Mayer. Sie plante eine Reise durch Europa, sobald sich die Situation dort »entspannt« hatte. Fürs Erste musste sie sich mit den Wolkenkratzern in New York zufriedengeben oder mit den Krustentieren in San Francisco, wo sie den nächsten Sommer verbringen wollte – »den dortigen Sommer« selbstverständlich. Max tat interessiert und unterdrückte ein Gähnen, dabei betete er zu Gott, er möge diese Schlange in die Gefilde zurückschicken, die sie nie hätte verlassen dürfen. Aber es half alles nichts, wer glaubt, man beneide ihn, ist meist selbst voller Neid und dementsprechend verbittert.
»Ohne Hühnerleberpastete ist ein jüdischer Tisch nicht komplett«, stichelte Guita weiter.
Max, der sich mit dem Essen größte Mühe gegeben hatte, verlor die Geduld.
» Désolé. In Brasilien haben die Hühner nun mal leider keine Leber.«
Guita hielt sich schwer gekränkt die Hand vor die Brust. Hannah versuchte, sie zu beruhigen.
»Komm, Liebes, probier doch mal den Borschtsch.« Dann warf sie dem Schuhmacher einen entschuldigenden Blick zu.
Das Verhältnis zwischen Max und Guita war offensichtlich im Eimer. Die beiden sabotierten sich gegenseitig, der eine hörte nicht zu, was der andere sagte, und hörte dafür, was der andere gar nicht gesagt hatte. Das einzig Gemeinsame war Hannah, die die Situation im Übrigen noch verschärfte, indem sie sich in ihrer Rolle als Ehefrau selbst übertraf, den Schuhmacher mit ihren Zärtlichkeiten in Verlegenheit brachte und Guita eifersüchtig machte. Max hatte fast das Gefühl, dass sie ihre Schwester provozieren wollte.
Die beiden Frauen waren am Nachmittag zusammen im Zentrum gewesen – nicht etwa, um ins Kunstmuseum zu gehen oder sich das funkelnde Gold in der Candelária-Kirche anzusehen, sondern um sich durch das größte Kaufhaus von Rio, das Park Royal, zu schieben. Ein Haufen Pakete stapelte sich auf dem Sessel: Schuhe, Schmuck, Kosmetik, Hüte. Guita hatte eine schöne Stange Geld ausgegeben. Bei dem Luxus, den sie gewohnt war, musste ihr Max’ Zuhause erschreckend schlicht vorkommen. Hannah entschuldigte sich für den »Zustand« und gab vor, erst vor drei Wochen umgezogen zu sein. Welcher Zustand? Max hatte alles hübsch hergerichtet, den Fußboden gebohnert und die Vorhänge mit rosa Schlaufen befestigt. Allmählich wurde es frisch, draußen zirpten fröhlich die Grillen. Die Welt war ein gut gestimmtes Orchester, auch wenn Guita nur auf Dissonanzen wie das Fehlen der berüchtigten Hühnerleberpastete horchte. Max hätte sie am liebsten selbst zu Pastete verarbeitet, versprach stattdessen aber, das Problembei der nächsten »Gelegenheit« zu beheben. Guita rührte in ihrer Suppe und hörte ihm gar nicht zu.
»Wo ist denn die Crème fraîche? Borschtsch ohne Crème fraîche ist kein Borschtsch!«
* * *
Es war acht Uhr abends, und sie schaukelten in einem Taxi ins Casino Atlântico. Auf einmal sagte Guita:
»Hast du schon mal von Konversionsstörung gehört, José? Vielleicht ist das das Problem mit deinen Beinen.«
Hannah kniff ihre Schwester.
»Also wirklich, Guita!«
Während die Männer vereint schwiegen, keiften die Frauen sich leise an. Nichts Ernstes, lediglich kleine schwesterliche Spitzen. Meeresgeruch erfüllte die Abendluft, die Straßenlaternen tauchten die Avenida in ein Licht wie mit Aquarell gemalt. Das Donnern der Wellen erschreckte die Pärchen, die auf der
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