Hannahs Briefe
*
Jayme öffnete ein silbernes Etui und bot ihm eine Zigarre an. Paffend fragte Max sich, was an den Dingern so besonders sein sollte, während sein Gegenüber von seinem Land erzählte. Buenos Aires sei nicht mehr dieselbe Stadt wie früher, auch wenn Argentinien immer noch mehr als alle seine Nachbarländer exportierte. Der Krieg in Europa verunsicherte den Markt und stürzte die Politik ins Chaos. Zu allem Überdruss grassierte von Ushuaia bis Corrientes der Nationalsozialismus. Selbst im kalten Patagonien, fernab von allem und jedem, besiedelten Deutsche die Einöde und warteten auf den Tag X, an dem Argentinien dem Deutschen Reich einverleibt würde.
»Brasilien hat Glück, Roosevelt wird nicht zulassen, dass Hitler hier einmarschiert.« Jayme kaute auf seiner Zigarre. »Ich beneide dich, mein Lieber, als Schuhmacher kannst du überall arbeiten. Ich hingegen stecke bis zum Hals in Argentinien fest.«
»Millionär zu sein ist nicht leicht«, stimmte Max ihm zu. »Vor allem wenn man solche Zigarren rauchen muss.«
Während die beiden sich im Kerzenlicht unterhielten, leerten Hannah und Guita die vierte Flasche Champagner. Sie aßen in der Präsidentensuite des Hotel Glória zu Abend. Ein Kellner öffnete die fünfte Flasche Veuve Clicquot, ein anderer tischte den Hauptgang auf. Von der Veranda krönte der Blick auf die Baía de Guanabara Guitas und Jaymes letzten Abend in Rio. Am nächsten Morgen um zehn würden sie mit dem Zug nach São Paulo fahren und dort auf dem modernen Flughafen von Congonhas in die Maschine nach Buenos Aires steigen.
Als Vorspeise hatte es vier Stangen Spargel mit Mayonnaise und einer verschrumpelten Tomate gegeben. Ein riesiger durchsichtiger Schwan aus Eis trug eine Portion Kaviar auf dem Kopf und ein Tablett mit Buchweizenpfannkuchen auf dem Rücken. Irgendwann standen die beiden Schwestern auf, schwankend und barfuß, und fingen an, einen Bolero zu tanzen. Sie lachten, bis sie sich verschluckten, und hatten die Arme und Beine ineinander verschlungen, so dass man nicht mehr wusste, wer wer war. Sie schürzten ihre Kleider zu erotischen Gesten und ließen sich dabeivon einem extra angeheuerten Fotografen ablichten. Die Kellner, die inzwischen nichts mehr zu tun hatten, warfen heimliche Blicke auf die beiden Irren, die jetzt in Tränen ausbrachen, bis Guita aufschrie, die Hände hob und lallend um Aufmerksamkeit bat.
»Ich bin schwanger.«
Die Nachricht kam völlig unvermittelt. Absolutes Schweigen. Hannah war fassungslos.
»Du?«
»Im zweiten Monat.«
Hannah verlor das Gleichgewicht, fiel nach hinten, stieß gegen ein spitzes Möbelstück und verletzte sich am Arm. Max lief, ohne zu zögern, zum Buffet und brach dem Schwan den Kopf ab. Während er auf Knien mit dem Eis Hannahs Wunde kühlte, fegte einer der Kellner den Kaviar vom Teppich auf. Niemand hatte bemerkt, dass der Schuhmacher ohne seine Krücken losgelaufen war, alle waren betrunken, Guita hielt sich den Bauch, und Jayme rief:
»Champagner!«
Die Ehepaare, echte wie vermeintliche, hoben die Gläser.
»Masel tov, Masel tov!«
Die Musikbox spielte Strauß, und die vier tanzten fröhlich einen Walzer.
Zum Nachtisch gab es in Cognac flambierte Crêpes. Der Kellner ließ die Pfanne über den Flammen tanzen, während am Horizont bereits die Sonne aufging. Hannah grinste von einem Ohr zum anderen, ihre Stimme klang zähflüssig, und sie verströmte einensüßlichen Schweiß, der den Schuhmacher um den Verstand brachte.
Als der Kaffee eingeschenkt wurde, ließ Max alte Träume wiederaufleben. Vielleicht hatte Guitas Besuch sie verändert, warum auch nicht? Am Ende würden sie ihre Flitterwochen in Buenos Aires verbringen. Doch der Alkohol trieb ihm diesen Wunsch wohlweislich wieder aus. Und sein Verstand wollte wissen, was Max eigentlich aus dem Verhalten der beiden Schwestern gelernt hatte, wenn er jetzt wieder auf die alten Muster pochte.
Die Wahrheit war doch die: Hannah war nicht die Frau seines Lebens und würde es auch nie sein. Sie tanzte gern auf dünnem Eis, möglichst nah am Abgrund, und vollführte dabei auch noch waghalsige Kunststücke. Max war nicht der Held, der sie auf sicheren Boden holte. Und dann sah er Großvater Shlomo, der ihm aus den Flammen der Kerzenleuchter wissend zunickte. Er erinnerte ihn daran, dass auch Verzicht Mut erforderte und dass ein Ende mit Schmerzen besser war als ein Schmerz ohne Ende.
* * *
Zehn Tage später
Max brauchte fast eine halbe Stunde, um sich die Krawatte zu
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