Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hannahs Briefe

Hannahs Briefe

Titel: Hannahs Briefe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronaldo Wrobel
Vom Netzwerk:
zu Hause sei. Er wuschsich am Ausgang die Hände und fuhr mit der Bahn zur Central do Brasil. Auf der Wache erwarteten ihn vier Stapel Briefe, in denen dasselbe wie immer stand: Hochzeiten, Krankheiten, Intrigen – alles durchzogen von der Angst vor den Nazis. Der Ausbruch des Krieges war nicht nur eine Frage der Zeit, er stand unmittelbar bevor. Paris lagerte Lebensmittel ein, und Belgien bettelte um Neutralität. Aber was hatte Max damit zu tun? Er wollte nach Hause und sich ausruhen. Nachdem er am späten Nachmittag den Stift weggelegt und sein Notizbuch zugeklappt hatte und aus der Wache trat, stieß er auf Leutnant Staub. Der Fall Franz Braun machte Fortschritte. Der Deutsche hielt sich in São Paulo auf und konnte jeden Moment verhaftet werden, unter der Anklage, für die Nazis in Santa Catarina und Rio Grande do Sul Waffen geschmuggelt zu haben. Braun stand einer Organisation vor, deren Aufgabe es war, aus Lateinamerika eine Zweigstelle des Dritten Reiches zu machen.
    »Und Marlene?«, fragte Max beiläufig.
    »Wird natürlich auch verhaftet.«
    »Tun Sie ihr nichts, sie ist ein guter Mensch.«
    »Ich gebe Ihnen mein Wort.« Staub klopfte dem Schuhmacher auf die Schulter. »Wo wir gerade dabei sind, es kann durchaus sein, dass wir Sie schon bald für eine neue Mission brauchen. Wo ist Hannah?«
    »In Petrópolis, mit ihrer Schwester.«
    »Sie soll sofort zurückkommen. Wir haben heute Abend eine wichtige Verabredung.«
    In Flamengo spielten die Kinder Blindekuh, undaus den Küchen roch es nach Abendessen. Max ging kurz in die Werkstatt, überflog die Nachrichten seines Gehilfen und rechnete die Tageseinnahmen ab. Zu Hause duschte er warm und beschloss, alle unschönen Gedanken zu verdrängen. In ein Handtuch gewickelt, trank er einen Saft und aß zwei Äpfel. Welch ein herrlicher Frieden! Keine Krücken, keine Lügen, keine künstlichen Grimassen von Hannah und Konsorten. Und da der Gesang der Grillen ihn zum Lesen inspirierte, setzte er sich in seinen Sessel und las in einem Band der Reihe »Große Maler«, die Hannah aus dekorativen Gründen gekauft und ins Regal gestellt hatte. Fragonard. Phantastische Farben, wunderbare Figuren, meisterhaft! Er betrachtete eine leicht rundliche Frauengestalt, als es ihm plötzlich einfiel: Fany. Oj! Warum musste er sich auch an das verdammte Versprechen erinnern, jetzt sah er sich gezwungen, es zu halten. Er klappte den Fragonard zu und ging ins Schlafzimmer, bevor er es sich aus Feigheit noch anders überlegte. Dort öffnete er den Kleiderschrank und durchwühlte sämtliche Jackenund Hosentaschen. Mehr als zehn Minuten lang suchte er vergeblich und verspürte bereits einen Anflug von Erleichterung, als der Brief schließlich doch auftauchte.
    Schwindel ergriff ihn. Na, komm schon, Max, was soll der Quatsch, du musst doch keine Angst vor einer Toten haben. Fürchte die Lebenden!
    Er setzte sich aufs Bett und riss den Umschlag auf. Es fühlte sich an, als öffnete er ein Grab. Ihm klopftedas Herz. Während er den Bogen auseinanderfaltete, fiel ihm auf, dass er selbst seit Jahren keinen Brief bekommen hatte. Das Notizbuch, die Polizisten, die nationale Sicherheit, das alles spielte jetzt keine Rolle. Dafür konnte er sich auch nicht hinter der Anonymität verstecken. Diese pulsierenden und seltsam vertrauten Zeilen waren unverkennbar an ihn gerichtet.

    Rio, 18. Dezember 1938
    Lieber Max,
    ich hoffe, es geht Ihnen gut, und Sie sind gesund und in der Stimmung, zu lesen, was ich Ihnen zu sagen habe. Es ist eines dieser Geheimnisse, die das Herz für sich behält. Aber ich liege im Sterben und kann nicht länger warten.
    Drrimm! Die Türklingel, um diese Zeit, wer konnte das sein? Max schlüpfte eilig in Pyjama und Pantoffeln. Das Pendel der Uhr im Wohnzimmer schwang zwischen Küchentür und einer Mesusa , die Hannah im Türrahmen angebracht hatte, hin und her. Es klingelte erneut: Drrimm, drrimm!
    »Ich komm ja schon.«
    Immer diese Ungeduld, oj wej! Hoffentlich war es nicht Leutnant Staub mit einer seiner geheimen Missionen! Max öffnete misstrauisch die Tür und erblickte Hannah in einem zerknitterten Mantel. Sie trat keuchend ein.
    »Entschuldige! Ich wäre auch lieber zu mir nach Hause gefahren, aber wir sind zusammen gekommen, also blieb mir nichts anderes übrig. Guita, oh, Guita! Sie fand es schrecklich in Petrópolis, über alles hat sie sich beschwert. Ich halte es nicht mehr aus. Ich zähle schon die Tage, bis es vorbei ist!« Sie ließ sich in den Sessel sinken.

Weitere Kostenlose Bücher