Hannahs Briefe
binden, dann parfümierte er sich die Schläfen, schnappte sich die Flasche französischen Roten und lief hinaus auf die Straße. Im Westen ging die Sonne unter, und die Vögel zwitscherten vergnügt.Max trug einen Leinenanzug mit Holzknöpfen, dazu zweifarbige Schuhe. In der Rua Marquês de Abrantes schoben die Autos und Straßenbahnen sich hupend durch den Feierabendverkehr. Er blieb an einem Taxistand stehen und sah auf die Uhr, ohne die Betrunkenen zu beachten, die ihn von der Eckkneipe aus beäugten. Er hatte keine Zeit zu verlieren.
Hannah und er waren um halb acht verabredet. Sie hatten sich seit der Abreise von Guita und Jayme nicht gesehen. Max hatte die Szene genau vor Augen, die weinenden Schwestern, die Männer leicht betreten in der Bahnhofshalle. Irgendwann ging Jayme zum Schalter, und Hannah war wahrscheinlich zum Naseputzen auf der Toilette, jedenfalls saßen Guita und Max plötzlich allein am Tresen eines Cafés. Max setzte ein künstliches Lächeln auf.
»Wir würden gern nach Buenos Aires kommen und uns das Baby ansehen.«
Aber Guita war nicht nach Höflichkeiten zumute.
»Vielleicht kommen Jayme und ich ja bald aus demselben Grund nach Rio«, erwiderte sie angriffslustig.
Max streute nervös Zucker in seinen Kaffee. Guita hingegen hatte offenbar nicht vor, ihm den Abschied zu versüßen.
»Irgendetwas sagt mir, dass du lügst. Ich weiß nicht, warum, aber ich spüre das. Ich hoffe nur, du bist kein Verbrecher oder so was. Hör zu, José, meine Schwester hat schon genug gelitten im Leben, sie brauchtwahrlich nicht noch mehr Probleme. Pass gut auf sie auf, sonst bekommst du es mit mir zu tun, verstanden?«
Max schluckte.
»Ja.«
Ein Stück weiter sah er Jayme einem Jungen Anweisungen geben, der einen Gepäckwagen mit fünf Koffern, Hutschachteln, Taschen und Paketen schob. Ganz Paris hätte dort hineingepasst. Kein Wunder. In sechs Tagen hatte Guita kein einziges Teil zweimal angehabt, kein Tuch, keinen Ohrring, nichts. Jetzt trug sie ihr »kleines Schwarzes« von Chanel und eine Brosche mit Rubinen, die so rot waren, dass einem das Blut in die Augen lief. Auf dem Kopf einen breitkrempigen Hut, der mit Spitzen und irgendwelchem Schnickschnack besetzt war. Jayme folgte mit seinem karierten Jackett und der unvermeidlichen Zigarre dem britischen Stil.
Vom Bahnsteig aus winkte Hannah ihrer Schwester zu, die bereits im Abteil Platz genommen hatte. Sie riefen sich die wunderbarsten Dinge zu, weinten um die Wette und ließen ihre roten Nasen tropfen. Regelrechte Hysterie brach aus, als ein Pfiff den Zug in Gang setzte und Guita sich aus dem Fenster lehnte. Hannah trottete über den Bahnsteig, schwenkte ihr Taschentuch und verzog das Gesicht, als würde man ihr die Eingeweide herausreißen. »Ich liebe dich, ich liebe dich«, schluchzte Guita, während der Zug sich langsam, aber unerbittlich entfernte und Stück für Stück in der Landschaft verschwand.
Doch das Leben ist kein Hollywoodfilm. Der Staub hatte sich kaum gelegt, da wischte Hannah sich die Tränen aus dem Gesicht und erklärte die Vorstellung für beendet. Mit einem nüchternen Seufzer verkündete sie:
»Sie kann von Glück reden, dass sie diesen Mann aufgetrieben hat.«
Dann verabschiedete sie sich von Max und fuhr mit dem Taxi nach Hause, um so lange zu schlafen, bis sie wieder bei Kräften war.
Ein paar Tage später rief sie den Schuhmacher an und lud ihn zu sich zum Abendessen ein. Sie habe etwas »sehr Wichtiges« mit ihm zu besprechen. Max kaufte den besten Wein, bügelte seinen Anzug und wartete ungeduldig. Warum hatte Hannah ihn eingeladen? Aus reiner Dankbarkeit, oder gab es wirklich etwas Wichtiges? Vielleicht wollte sie auch nur mit ihm über die Briefzensur sprechen oder ihre nächste Mission planen. Und wenn sie ihm gestand, dass Fany die Briefe an Guita geschrieben hatte? Wenn sie ihn bei gedämpftem Licht im durchsichtigen Negligé empfing, ihn an der Krawatte packte und ihm obszöne Worte ins Ohr flüsterte? Solche Gedanken überfielen ihn immer wieder im falschen Moment.
Zwei Tage vor ihrer Verabredung war Max die Gefühlsseligkeit in Person. Natürlich würde er ihr verzeihen. Nachtragend war er nie gewesen. Sie würden an einem abgeschiedenen Ort inmitten von Blumen leben, und sie würde das Brot für den Sabbat backen, bevor die Kinder von der Schule kämen. Sogar Guitaund Jayme würden sie mit ihrem kleinen Stammhalter besuchen kommen, und dann wären sämtliche Traumata nicht nur überwunden, sondern auch als
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